Buchtipp: „Die Illusion der Vernunft“

Die Antwort auf die Frage „Was ist Wahrheit?“ lässt sich, je nach Perspektive, ganz unterschiedlich beantworten. Klar ist jedoch, dass die Wahrheit und die dazu benötigte Wahrnehmung ein kognitiver Prozess ist, also in unseren Gehirnen stattfindet. Dementsprechend hat sich Redakteur Joshua mit Neurowissenschaftler, Psychiater und Autor des Buches „Die Illusion der Vernunft“ Philipp Sterzer zusammengesetzt, um für uns herauszufinden, wie das Gehirn unsere Wahrnehmung konstruiert.

Joshua: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ soll der berühmte griechische Philosoph Sokrates vor über 2000 Jahren so ähnlich gesagt haben. Ich verstehe den Satz so: Etwas zu wissen ist genauso menschlich wie zu irren, und jedes Wissen ist nur ein weiterer Irrtum auf dem Weg zur nächsten Erkenntnis.

Das wohl bekannteste Beispiel für solche Irrtümer sind die so genannten drei Kränkungen der Menschheit: Die kopernikanische Wende, die die Erde aus dem Mittelpunkt des Universums verbannte, die Einsichten aus Darwins Evolutionstheorie, die die Schöpfungsgeschichte der Arten neu definierte oder die Lehren Freuds über das Wirken des Unbewussten in unserem Seelenleben.

Wieso aber fühlen wir uns überhaupt „gekränkt“, wenn wir durch neues Wissen veraltete Einsichten über Bord werfen müssen? Ist es nicht ein Fortschritt und dadurch als etwas Positives zu sehen, wenn durch Wissenszuwachs  neue vorher ungeahnte Stufen der Erkenntnis erreicht werden?

Genau diesem Widerspruch widmet sich Neurowissenschaftler, Psychiater und Autor Philipp Sterzer. Er ist tätig an den Universitären Psychiatrischen Kliniken in Basel und veröffentlichte im Jahr 2022 das Buch „Die Illusion der Vernunft“ im Ullstein-Verlag. Der Untertitel: Warum wir von unseren Überzeugungen nicht zu überzeugt sein sollten.

Ich bekam die Gelegenheit, mit ihm über einen kleinen Teil seiner Erkenntnisse zu diskutieren. Meine erste Frage war: Wie erschafft unser Gehirn das, was es uns als Wahrheit verkauft?

P. Sterzer: Ja sehr gute Frage, auch in dieser Formulierung: „Was es uns als Wahrheit verkauft“.
Wahrscheinlich ist es so, dass unser Gehirn mit einem Modell der Welt arbeitet, ein Modell der Welt, das es sich im Lauf der Zeit in Anführungsstrichen „gebaut“ hat: Wie ist die Welt beschaffen? Wie sind die Zusammenhänge zwischen Ereignissen der Welt, kausale Zusammenhänge und so weiter… und dieses Weltbild benutzt unser Gehirn um Vorhersagen zu machen, darüber was da draußen passiert und insbesondere, um sich einen Reim auf die Sinnesreize zu machen, die von unseren Sinnesorganen registriert werden und aus diesem Abgleich zwischen diesem Bild der Welt oder den Vorhersagen die daraus resultieren und den tatsächlich eingehenden Sinnesdaten wird dann sowas wie unsere subjektive Wahrheit als eine Art „Best Guess“, also eine bestmögliche Einschätzung über die Wirklichkeit generiert.

Man muss natürlich immer, sozusagen alles unter den Vorbehalt stellen, dass wir natürlich nicht ganz genau wissen, wie es tatsächlich funktioniert. Aber: Nach den heutigen Vorstellungen, die auch durch viele neurowissenschaftliche Befunde untermauert werden, ist  unsere Wahrnehmung der Welt tatsächlich ein aktiver Prozess.

Joshua: Ein Teil dieser aktiven Wahrnehmung ist das Prinzip des Fehlermanagements. Unser Gehirn hat sich angeeignet, lieber vom größten anzunehmenden Unheil auszugehen, um im Fall der Fälle ein wirkliches Unheil zu erkennen. Viele kennen es sicherlich, wenn man im Dunkeln nach Hause geht und schwören könnte, im finsteren Gebüsch eine Silhouette erkennen zu können. Wir geraten in Alarmbereitschaft und wenn nun wirklich jemand aus dem Gebüsch gesprungen käme, könnten wir eher die Flucht ergreifen.

P. Sterzer: Das ist nen gutes Beispiel dafür, dass wir Menschen sozusagen drauf, wenn man so will, programmiert sind  immer von der größeren Gefahr auszugehen und dass sich tatsächlich nicht nur unsere Entscheidungen, sondern oft auch unsere Wahrnehmung danach richtet, was sozusagen, die sicherere Variante ist.

Also ich denke, es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass das Gehirn dabei möglichst pragmatisch vorgeht, dass unser Gehirn nicht in jeder Situation versucht der Wahrheit, der Realität da draußen, möglichst auf den Grund zu gehen, sondern dass es eben Heuristiken, also Faustregeln verwendet,

Also lieber einen Fehler machen, der keine hohen Kosten hat, als einen Fehler machen, der uns vielleicht das Leben kostet, und das ist sozusagen ein Aspekt, der bei dem Prozess, wie das Gehirn unsere Wahrheit baut, eine ganz wichtige Rolle spielt. 

Joshua: Phänomene wie diese verzerren also unsere Wahrnehmung und werden ausführlich und allgemein verständlicher Art und Weise in Sterzers Buch „Die Illusion der Vernunft“ beschrieben und durch weitere nachvollziehbare Beispiele erklärt.

Durch genau solche „Realitätsverzerrenden Phänomene“ kann uns die Wirkweise des Gehirns bei anderen Angelegenheiten aber auch in mentale Sackgassen führen.

 Konkurrierende Wahrheits-Narrative buhlen wie nie zuvor um unsere Bereitschaft, sie zu glauben. Sollte man erst einmal von Ihnen überzeugt sein, kommt es mitunter vor, dass Andersdenkende direkt als Idioten oder Unwissende betitelt werden. Man schottet sich gegen alles Widersprüchliche ab. Dementsprechend habe ich abschließend Herrn Sterzer noch gefragt, was wir aus seinem Buch mit in den Alltag nehmen können. Dabei kamen wir auf den Begriff der Unsicherheitstoleranz zu sprechen. 

P. Sterzer: Ja, unter dem Begriff Unsicherheitstoleranz oder häufig spricht man auch von Ambiguitätstoleranz, versteht man, dass man in der Lage ist, es auszuhalten, dass etwas nicht klar ist. Dass es nicht eindeutige Wahrheiten gibt, sondern dass es einen großen Graubereich gibt und wir manchmal keine klare Festlegung treffen können, und ich denke, dass viele falsche Überzeugungen oder irrationale Überzeugungen genau deswegen bestehen, weil wir Unsicherheit sehr schwer aushalten können.

Wir wollen uns klar festlegen, um eben auch ein kohärentes Bild der Welt zu haben, um auf dieser Grundlage gute Entscheidungen treffen zu können, aber wir können uns immer wieder daran erinnern, dass eben viele Dinge nicht eindeutig sind, dass sie unsicher sind und können auf dieser Grundlage versuchen und sozusagen uns gegen diese Tendenz zu wehren, immer auf die erstbeste Erklärung zu springen, die vermeintlich eine einfache Erklärung für ein komplexen Sachverhalt bietet.

Joshua: Das Buch ist meiner Meinung nach ein super Einstieg in diese ziemlich umfangreiche Thematik. Sterzer definiert viele wichtige, grundlegende Begriffe und setzt sie in den Zusammenhang, der zum Schluss des Interviews kurz Anklang fand: Nämlich wie man Überzeugungen verstehen kann, die weniger rational oder evidenzbasiert sind.

Die vermittelten Erkenntnisse könnten einen Beitrag dazu leisten, in einer auseinander driftenden Welt der mehreren Wahrheiten, wieder mehr Verständnis statt Ablehnung für Andersdenkende zu gewinnen.