Grenzfälle – Punk in der DDR (Teil 2)

Was bedeutete Punk in einem Land, in dem Freiheit verdächtig war?

Laura Morais und Lukas Harth tauchen in eine wenig erzählte Geschichte ein – den Sound des Widerstands in der DDR. In ihrer zweiteiligen Podcastreihe sprechen sie mit Musikern, Zeitzeugen und dem legendären Radiomoderator Lutz Schramm. Im Zentrum: die Dresdner Band Kaltfront, gegründet 1986 – und noch heute aktiv.
Ein Podcast über Lärm, Leidenschaft und das Überleben einer Subkultur – im Schatten der Mauer.

Lukas: Ost-Berlin, Erfurt, Dresden. Vor dort kamen Punkbands wie Feeling B, Namenlos oder Kaltfront. Aus der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik.

Laura: Aber Punkbands in der DDR? Für viele heute unvorstellbar – doch es gab sie. Nicht zuletzt wegen einer ganz bestimmten Radiosendung: Das Parocktikum mit Lutz Schramm auf dem DDR-Radiosender DT-64.

Lukas: Die DDR-Punkbands Kontakt zum Moderator auf, schicken ihm Briefe und Demo-Tapes. Endlich gehört werden, bekannt werden, vielleicht den Durchbruch schaffen. Und eine dieser Bands ist: Kaltfront.

BRIEF an Lutz:

Hallo Lutz, anbei eine Demokassette. Kaltfront gibt’s seit Herbst 86. Im Januar wurde diese Kassette aufgenommen, leider ist die Qualität nicht so besonders. Der Bass klingt eher wie Schlüppergummi und der Gesang ist etwas zu leise. Naja. Es gibt schlimmeres. Also dann, viel Spaß. Jörg

JÖRG: (lacht) „Der Bass klingt eher wie Schlüppergummi…“(Band lacht)

Lukas: Von Lutz Schramm, dem Radiomoderator aus Teil 1, erhalten wir den kompletten Briefwechsel zwischen ihm und dem jungen Bassisten Jörg Löffler. Schramm hat so gut wie alles aufgehoben. Etwa 25 Briefe schreiben sich die beiden zwischen Dezember 1986 und Mai 1987. Bei unserem Interview vor dem Konzert bringen wir den Stapel mit. Im spärlichen Deckenlicht des Tourbusses sieht Jörg sie das erste Mal seit knapp 40 Jahren wieder.

JÖRG: „Handschriftlich auch noch?“

LUKAS: „Ja, das ist wirklich eure komplette Korrespondenz.“

JÖRG: (lacht) „Was ist denn das? Starkstrom-Jörg? Mach das weg, mach das weg! (Gelächter der Band) Nein, nein, nein! Alles verbrennen, alles verbrennen! (lacht) Das war die Überraschung, die du mir vorhin angekündigt hast? Ja, okay, das ist ja gelungen. Das ist wirklich ne Überraschung.“

Lukas: Diese vier Jungen Punks – Sonic Jörg, Kanne, Blitz und Donald, so Punks, wie aus dem Bilderbuch – abgewetzte Lederjacken, selbstgeschnittene Frisuren, die sitzen zusammen im Proberaum der befreundeten Band St. Metal und nehmen dieses Demoband für Lutz Schramm auf. 

LUTZ: „Also, das war gut. Es war straighte Rockmusik, angepunkt oder von mir aus auch straighter Punk mit deutschen Texten. Und ich habe dann den „Klimawechsel“, hieß das Ding glaube ich, rausgesucht und habe dann auch gleich von der Band einen harten kritischen Brief bekommen, dass das doch eigentlich das Stück für die Schlagerparade gewesen wäre und dass es doch viel bessere Sachen auf ihrem Tape gegeben hat.“

BRIEF an Lutz:

Hallo Lutz. Wir haben soeben das Parocktigumm (sic!) vom 3.3.87 vernommen. Besten Dank dafür, dass Du auf unsere Kassette eingegangen bist. Publicity rules! Bloß der Song “ Klimawechsel“ war für die Schlagerrevue gedacht. Was sollen die Parocktikumhörer von uns denken?

LUKAS: „Also offensichtlich wart ihr nicht so ganz zufrieden mit der Songauswahl. Kannst du dich daran erinnern?“

JÖRG: „An dem Brief nicht. Aber klar, Klimawechsel war… also wenn ich mir die Version von dem Tape heute anhöre… Wir haben es ja auch mittlerweile noch mal gespielt. Besser, Rockiger. Anders auf jeden Fall, anders als damals. Das war wirklich Schlagerrevue.“

Lukas: Was Jörg hier in seinem Brief mit Schlagerrevue meint – das ist natürlich ironisch gemeint. Keiner der Songs auf der Demo von Kaltfront hätten jemals bei der Schlagerparade laufen können. Aber „Klimawechsel“ – das war nun eben der seichteste Song auf der Kassette.

Laura: Und ausgerechnet den sucht Lutz Schramm aus.

LUTZ: „Das ist eben auch immer so ein bisschen die Falle, in die ich… oder Falle, was heißt Falle… Ich glaube, das hängt auch so ein bisschen mit diesem Zensurding zusammen im Kopf, da bin ich ein paar Mal drauf reingefallen.“

Laura: Das „Zensurding im Kopf“. Moderator Lutz Schramm lernt mit der Zensur zu leben und sich mit ihr zu arrangieren. Deshalb wählt er mit Fingerspitzengefühl im Vorfeld schon die Stücke aus, die ihm und vor allem der Band keinen Ärger bereiten können – und manchmal dann eben auch nicht die wirklich verrückten Sachen.

LUTZ: „Das habe ich zu 100 Prozent selbst entschieden, also, das hätte nicht funktioniert. Also wenn ich so ein Tape mit so einer Mischung, also gegen die Armee, für die Umwelt und gegen Spießigkeit irgendjemanden in einer höheren Etage zum Beispiel gegeben hätte, dann wäre der eine Song gegen die Armee der Grund gewesen, die ganze Band nicht zu nehmen oder eben irgendwelche anderen Gründe.“

Laura: Also lieber die Musik spielen, die gerade so noch geht, als sie gar nicht zu spielen? Nicht immer eine leichte Entscheidung für Schramm. Oft schießen die Texte dieser Punksongs gegen die Armee oder setzen sich für Umweltschutz ein – diese Themen sind gar nicht gern gesehen. Doch Schramm schlängelt sich das ein oder andere Mal vorbei an den Vorschriften auf dem Papier.

LUTZ: „Ich wurde natürlich auch in gewissem Maße kontrolliert, wenn ich eine Sendung vorbereitet habe oder wenn die Folge abgeschlossen ist, dann habe ich dann die Musikliste meinem Vorgesetzten gegeben. Wenn es eine vorproduzierte Sendung war, hatte der ja auch die Gelegenheit, die ganze Sendung anzuhören, was er aber meistens bei einer normalen Sendung auch nicht getan hat. Wir hatten auch ein kollegiales Verhältnis und auch ein sehr hohes Maß an Vertrauen. Das heißt, er hat mir vertraut, dass ich eben die Songs gegen die Armee nicht spiele und ich konnte mich darauf verlassen, dass er jetzt nicht bei jedem Pipapo 20 Mal nachfragt.“

Laura: Aber das – fanden nicht alle gut. Obwohl das Parocktikum unter Jugendlichen immer beliebter wurde, waren viele Punks mit der gefilterten Musikauswahl von Lutz Schramm im Staatsradio nicht einverstanden. Im Vordergrund: Die Angst vor Vereinnahmung der geliebten Musik und die politische Instrumentalisierung der Subkultur. Allein die Tatsache, dass Punk überhaupt auf dem Staatssender DT-64 lief, ging einigen Gegnern des DDR-Regimes zu weit. Mit direkten Folgen für Lutz Schramm.

LUTZ: „Da setzt sich jemand ins Radio und spielt da Kennedys und Clash und Einstürzende Neubauten und tut so, als ob das das Normalste auf der Welt wäre. Während wir hier von der Stasi immer zu eins auf die Schnauze kriegen. Die haben selbstverständlich ein Problem gehabt mit dem, was ich gemacht habe. Das habe ich aber auch erst relativ spät verstanden. Interessanterweise durch die Intervention eines Menschen, der mir eins aufs Maul gehauen hat.“ 

Lukas: Im Keller der Sophienkirche in Berlin ist Schramm als DJ engagiert. Dort finden mitte der 80er regelmäßig Disko-Abende statt. In seiner Plattenkiste: feinste, von ihm ausgewählte Platten, New Wave, Punk, aber auch Musik aus Afrika – ein Hauch Freiheit für das Szene-Treffen.

LUTZ: „Und nachdem ich dann fertig war, meine Sachen zusammengepackt habe auf dem Weg zur Straßenbahn war, kam einer mir hinterher, tippte mir auf die Schulter. Und als ich mich umgedreht habe, sagte er: stell mal deine Sachen hin. Und dann sag ich: wieso? Ja, weil ich dir eins auf Maul hauen will ­– und dann hatte er’s aber schon gemacht.“

Lukas: Der Unbekannte holt unvermittelt aus – und trifft den DJ mit der Faust ins Gesicht. Verdutzt schaut Lutz Schramm in seine Richtung.

LUTZ: „Und dann hab ich gefragt: warum hast du das jetzt gemacht? Und dann sagte er nur: weil du das machst, was du machst. Und er hat sich umgedreht und ist weggegangen.
Ich war auch kein Unterwanderer des Systems. Ich habe geglaubt, war davon überzeugt, das Gesamtsystem ist okay, aber es braucht ein paar Optimierungen und da, wo ich optimieren konnte, also in dem Fall gute Radiosendung machen, habe ich halt versucht, das zu machen, was mir möglich war und manchmal ein bisschen mehr als möglich war, da gab es auch mal eine kleine Beule und dann ging es weiter.“

Lukas: Neben diesen Ausnahmen erhält das Parocktikum vor allem eins: Viel, viel Zuspruch. Denn eine weitere Besonderheit der Sendung: Sie wird nach und nach zu einer gern genutzten Kontaktbörse unter den Hörer*innen. Mit Lutz Schramm als Vermittler klären sich über das Radio Auftrittsmöglichkeiten für Bands oder Ankündigungen für Veranstaltungen. Die Kontaktbörse nutzt auch Jörg in seiner Not: Bei vielen jungen Punkbands machte nämlich der Staat einen Strich durch die Karrierepläne: Sänger und Gründungsmitglied Kanne muss zur NVA – zum Armeedienst der DDR.

BRIEF an Lutz, Geräusch: Bleistift auf Papier:

Lieber Lutz. Im Mai 87 tritt unser Frontmann seinen „Ehrendienst“ an. Aus diesem Grund eine Bitte: Könntest du im Parocktikum darauf verweisen, dass KALTFRONT einen neuen Sänger sucht?!?!?!?!?! Viele Grüße und zieh dich warm an, KALTFRONT

BRIEF an Jörg, Geräusch: Schreibmaschine

Hallo Jörg, sei bitte nicht böse, dass ich dieses Schreiben relativ kurzhalte, die leidige Zeit sitzt mir im Nacken. Für den neuen Sänger drück ich euch die Daumen, wäre doch gelacht, wenn sich unter den Millionen Parocktikum-Hörern nicht ein geiler Artist finden würde. Bis demnächst, Lutz Schramm

Lukas: Und damit sollte Lutz Schramm recht behalten. Denn der damals 17-Jährige Tom Wittig hört den Aufruf im Radio – und traut sich zur Probe der Dresdner Punkband.

TOM: „Also ich bin bei Berlin großgeworden und bin dann zur zur Lehre und zum Abitur nach Dresden gekommen und ja, ich glaube, ich war der einzige, der nach drei Liedern nicht heiser war oder so und seitdem bin ich dann halt Sänger der Band.“

LUKAS: „Kanntest du Kaltfront denn schon?“

TOM: „Ich kannte Kaltfront. Ich fand das geil, irgendwie so. Und die haben mir den Text in die Hand gedrückt. Und dann hab ich gesungen wie gewohnt…“

JÖRG: „Wir waren eigentlich ´ne Casting Band.“ (lachen)

Lukas: In der neuen Besetzung ist Kaltfront wieder spielbereit. Jetzt wollen sie den nächsten Schritt gehen: hochwertige Aufnahmen ihrer Songs machen. Und auch da sind sie mittlerweile bei Lutz Schramm an der richtigen Adresse. Denn Lutz Schramm macht ab 1986 solche Aufnahmen. Die „Parocktikum-Sessions“ – eine begehrte Option für die jungen Musiker*innen und Bands. Denn Studioaufnahmen sind in der DDR quasi unerreichbar ohne Plattenvertrag mit dem Staatslabel AMIGA. Die Vorlage für seine Sessions findet Lutz Schramm bei der BBC. In den 1980er Jahren produzierte der Radiomoderator John Peel zahlreiche Radiokonzerte. Lutz Schramm – der John Peel der DDR.

LUTZ: „Das war für mich eben auch immer so eine wichtige Geschichte. Radio, die die Möglichkeiten von Radio auszuloten und zu gucken, was kann man machen. Das habe ich auch bei Leuten im Westen gelernt, quasi.“)

Laura: Vor allem Lutz Schramms Interesse für Musik aus der Heimat DDR nahm auch durch seine zahlreichen Kontakte immer mehr zu. Die vorgeschriebene Quote des Senders 60 Prozent Musik aus der DDR und 40 Prozent aus dem Westen, war für Lutz Schramm deshalb nie ein unliebsames Dogma.

LUTZ: „Der Rundfunk musste weiter jugendgemäße Musik spielen und wenn nicht zwischendurch die Beatles und danach irgendeine Blaskapelle spielen wollte, dann muss halt auch Rockmusik her, die aus dem eigenen Land ist. Da habe ich eben mehr getan, als nur Reportoire zur Verfügung zu stellen, sondern ich habe eben auch geholfen, Repertoire zu erzeugen, die mit dem Blick auf auf die Ostszene. Also ich wusste inzwischen, es gibt da viele spannende Bands, die auch heimlich auftreten müssen, weil sie keine Einstufung haben oder die gerade ihre Einstufung gemacht haben, aber noch nicht die Möglichkeiten haben, überall bekannt zu werden.“

Laura: In seinen Briefen bewirbt sich Jörg von Kaltfront ebenfalls um eine der begehrten Aufnahmesessions bei Lutz Schramm. Dafür kamen nicht alle Bands in Frage, denn so eine Aufnahme war damals ein immenser Aufwand.

JÖRG: „Es ging um eine Parocktikum-Session und da ist er da zu so Konzerten mit einem Übertragungswagen – das war so ein Riesentruck, also heutzutage braucht man eigentlich bloß ein Handy, etwas übertrieben, aber damals, da musste so ein Riesentruck vorfahren und dann wurde in den Saal irgendwelche Kabel gelegt oder alles abgenommen und dann außen wurde das in dem Truck dann halt so gemischt und aufgenommen.“

BRIEF an Jörg, Geräusch: Schreibmaschine:

Hallo Jörg, im Prinzip steht diesem Vorschlag nichts entgegen. Ich gebe nur zu bedenken, dass eine quasi-Studio-Produktion auch einige Nachteile mit sich bringt. Die Gefahr, dass die notwendige „Lockerheit“ verloren geht, ist sehr hoch. Dazu kommt, dass beim mehrmaligen Spielen eines Titels eine etwas nervige Atmosphäre entsteht. Außerdem kann man auf diese Art nur drei bis vier Titel produzieren und braucht ein ganzes Wochenende.

Laura: Aber Jörg und Kaltfront lassen nicht locker. Sie wollen diese Chance unbedingt nutzen. Für sie ist es die einzig wirkliche Möglichkeit, sich einem breiteren Publikum Gehör zu verschaffen.

JÖRG: „Ja und dann hat es ewig gedauert. Ich hab‘ dann auch in ein paar von den Briefen noch nachgefragt…“

Laura: Und Jörgs Durchhaltevermögen zahlt sich aus. Lutz vereinbart mit Kaltfront einen Termin. Eine echte Kaltfront-Parocktikum-Session ist zum Greifen nah.

Aber dann:

BRIEF an Jörg, Geräusch: Schreibmaschine:

Hallo Jörg, leider gibt es schlechte Nachrichten. Zum ersten Mal ist das passiert, womit leider immer zu rechnen ist. Der Termin im April ist geplatzt. Grund: Es ist kein freier Ü-Wagen vorhanden. Das hat übrigens nicht nur den Grund der Überbelastung. Inzwischen sind die Bandagen für Parocktikum-Produktionen etwas härter geworden. Das heißt, eigentlich nicht härter, sondern genauso hart, wie bei anderen Produktionen. Was wiederum bedeutet, dass die Musikproduktionsabteilung erst alles gesehen/gehört haben will, was aufgenommen werden soll, bevor es richtig losgeht. So hat also der Chefproducer erstmal dieses Projekt einem anderen vorgezogen, weil eben noch nicht alles hundertprozentig klar war für ihn.

Lukas: „Die Bandagen sind härter geworden“ – was Lutz Schramm hier meint, ist die Kontrolle des sogenannten Lektorats. Das ist eine Kommission, die in einem der Büros im Sender zusammenkommt. Darin: Etwa zehn bis fünfzehn Produzenten, Texter und Parteifunktionäre – oft alles jeweils in einer Person. Lutz Schramm selbst nimmt als Gast regelmäßig an solchen Sitzungen teil, schlägt Bands und Musiker*innen vor – die Entscheidung über eine Produktion trifft er selbst jedoch nicht.

LUTZ: „Das Lektorat ist die Einheit im DDR-Rundfunk, die bevor der Rundfunk offizielle Produktion macht, entscheidet, ob die Titel die da produziert werden sollen, auch produktionswürdig sind. Meistens geht es da um die Texte, aber es geht natürlich auch um das Gesamtwerk. Also wenn die Band keinen Ton gerade spielen kann oder wenn die Musik irgendwie in keine Schublade passt, die irgendwie Sinn macht oder, oder oder. Also wenn das musikalisch oder künstlerisch nicht bestimmten Werten entspricht, dann werden Sachen eben auch nicht produziert.“

Lukas: Also – Zensur. Denn obwohl der DDR-Staat mittlerweile toleranter gegenüber Punkmusik geworden ist, filtert er durch solche Kontrollinstanzen nach wie vor kritische Meinungen und Darstellungsformen, die er als zu abweichend von der Norm empfindet.

LUTZ: „Und das ist eben gerade mit der Musik, die Kaltfront macht, auch so ein bisschen Herausforderung, weil das eben Musik war zu der Zeit, die im DDR-Rundfunk noch nicht produziert wurde und das macht es etwas schwierig.“

BRIEF an Lutz, Geräusch: Bleistift auf Papier:

Lieber Lutz. Ich muss dir gleich mal auf Arbeit schreiben. Sorry, dass der Brief bissel dreckig aussieht. Danx (sic!) für den Eilbrief und die schlechten Nachrichten. Uns kann sowas inzwischen nicht mehr aus der Bahn werfen. Das sind wir schon gewohnt.

Lukas: Auf Bitte von Lutz Schramm schickt ihm Jörg weitere Demo-Aufnahmen von Kaltfront – Material, das Lutz Schramm beim Lektorat vorlegen möchte, um Kaltfront ins Programm einzuplanen. Scheiterte es bisher noch an organisatorischen Dingen wie einem fehlenden Ü-Wagen, sollte sich jetzt entscheiden, ob Kaltfront überhaupt „produktionswürdig“ ist.

LUTZ: „Und das hing halt immer an so Diskussionen wie: es ist musikalisch nicht ausgereift. Teilweise waren dann eben auch die Texte, wo Anstoß genommen wurde. Es wurde dann immer so als Alternative vorgeschlagen, ein Konzert mitzuschneiden. Aber dass wir Produktion auf den Weg gebracht haben, hat nicht funktioniert.“

JÖRG liest aus Brief von Lutz: „Also ich bin mit eurem Demo in diese Institution gegangen und wurde in allen Punkten abgelehnt. Das hatte Text- und musikalische Gründe.“

JÖRG: „Wir haben den Staat kritisch gesehen. Was heißt nicht konform? Also das ja in der einen Lesart war das schon dann nicht konform, wenn man wenn kritisch war. Also ich habe es anders gesehen. Ich dachte, wenn man mit Dingen nicht zufrieden ist, dann kann man das ja auch äußern. Aber scheinbar war das zu viel erwartet.“

BRIEF an Jörg, Geräusch: Schreibmaschine:

Hallo Jörg und Band, wir wurden doch etwas schnell unterbrochen. Also erzähl ich die Geschichte noch mal der Reihe nach. (Es ist der normale Weg, dass die Titel, die produziert werden sollen, vorher dem versammelten Produzentenkollektiv vorgespielt werden, um die Stücke „abzusegnen“. Dabei werden sowohl die Texte als auch die Songs eingeschätzt.) Ich bin also mit eurem Demo in diese Institution gegangen und wurde in allen Punkten abgelehnt. Das hatte Text- und musikalische Gründe. Man verstieg sich zu der Feststellung, dass die Songs dilettantisch seien und eine Produktion nicht gerechtfertigt wäre.

JÖRG: „Na ja, da kann ich mich erinnern, dieser Brief, das war sozusagen dann die Absage, also die die Begründung von der Absage.“

FORTSETZUNG BRIEF an Jörg:

Das ist also der momentane Stand. Für mich insofern problematisch, als dass mir bewiesen wird, dass „man“ sich wohl doch nicht mit „anderer“ Musik, wie die härteren Rocksongs von euch, angefreundet hat. Beste Grüße an alle, Lutz Schramm

LUTZ: „Das war eher so allgemein die Haltung, wir wollen Kaltfront nicht produzieren – diesen Satz hat halt niemand gesagt, aber dahinter steckt einfach: wir wollen keinen Punk produzieren. Weil Kaltfront waren, also von den Bands, die ich da vorgeschlagen habe, war Kaltfront am straightesten Punk mit deutschen Texten.“

BRIEF an Lutz, Geräusch: Bleistift auf Papier:

Hallo Lutz, nachdem wir übers Osterfest Muße hatten, die schlechten Nachrichten (davon gabs mehrere!) zu verdauen, will ich auf deinen Brief eingehen.

JÖRG liest Brief: „Wir hätten uns nicht träumen lassen, dass wir in allen Punkten abgelehnt werden. Dabei bringt doch kein anderer so einen genialen Popsong wie Karriere zustande.“

FORTSETZUNG BRIEF an Lutz:

Nicht mal Lennon/McCartney hätte das besser hingekriegt. Du hast recht, an Absagen soll man sich nicht gewöhnen. Allerdings sehen wir solche Absagen als Bestätigung dafür, dass wir ungefähr richtig liegen. Würden uns alle möglichen Institutionen Zucker in den Arsch blasen, wären wir wahrscheinlich auf dem besten Wege, Schleimer vom Kaliber…. (ich spar mir den Namen einer bekannten Nachwuchsteenieband) zu werden.

LUKAS: „Ja, was habt ihr da gedacht?“

JÖRG: „Ja.. wie gesagt. Man war das ja gewohnt. Das war damals auch in mancher Hinsicht auch so ein Trugschluss, weil wir gedacht haben: Ach, alles easy hier, das geht jetzt schon, das ist jetzt öffnet sich alles, das wird alles einfacher und wir können hier unser Ding machen und keinen stört’s. War eben doch nicht so.“

JÖRG: (liest) „Allerdings sehen wir solche Absagen als Bestätigung dafür, dass wir ungefähr richtig liegen.“

LUKAS: „Also, wenn du das jetzt so liest, verwundert dich das, dass du das geschrieben hast?“

JÖRG: „Nö, da kenne ich mich wieder. Ja, also andere Dinge verwundern mich sehr muss ich ehrlich sagen (lachen) aber da erkenn ich mich wieder.“

LUKAS: „Fandet ihr das schade? Wart ihr enttäuscht?“

JÖRG: „Ja sicher, sicher. Damals hat es mich auf jeden Fall enttäuscht. Aber im Nachhinein, finde ichs dann auch wieder gut, weil wer weiß, wie uns das in Erklärungsnot gebracht hätte. Wenn wir damals die Aufnahme hätten durchgekriegt und dann hätte einer gesagt: Ihr seid auch so ne FDJ-Stasi-Band, so ne angepasste.“

TOM: „Man hätte sich dann wahrscheinlich auch irgendwie verbiegen müssen, irgendwie so. Man hätte dann nicht mehr dit machen können wat man eigentlich will..“

JÖRG:  „Ja nee, ich meine, gesetzt den Fall, wir hätten das machen können, hätten die Aufnahmen doch gekriegt, und dann trotzdem, es bleibt dann immer so ein…“

TOM: „Geschmack.“

JÖRG: „Ja, so ein Zweifel oder so eine Skepsis bei vielen Leuten.“

LUTZ: „Also, die sind eben auch eine Band, die eben nicht an ihren Texten rumdoktern lässt. Also wenn es überhaupt so weit gekommen wäre, wären die sicherlich auch konsequent geblieben.“

Laura: So konsequent waren allerdings nicht alle Bands. Unter dem Label „Die Anderen Bands“ veröffentlichte das Staatslabel Amiga kurz vor dem Mauerfall zwei Sampler mit DDR-Punk- und New Wave-Bands, teilweise mit Aufnahmen aus Rundfunkproduktionen von Lutz Schramm. Bis heute haftet einigen dieser Bands ein Opportunismus-Etikett an. Nämlich denen, die Textpassagen änderten, Förderverträge der FDJ, der Freien Deutschen Jugend unterschrieben und auf deren Propaganda-Veranstaltungen Konzerte spielten.

JÖRG: „Also das hätten wir nicht gemacht, ne, da bin ich mir ganz sicher. Das hätten wir nicht gemacht. Es war schon so eine gewisse Gratwanderung damals. Was macht man, was macht man nicht, wie weit kann man gehen? Also vorher war es eine Gratwanderung in einer anderen Seite, wie weit kann man gehen, ohne verhaftet zu werden und danach wars die Gratwanderung, wie weit kann man gehen, ohne ohne als Verräter irgendwie… Wir haben ja niemals irgendwie uns da angepasst. Aber der Verdacht entsteht ja, wenn du dann plötzlich so eine Session machst und hast Aufnahmen im Radio, im DDR-Radio, dann gibt es da Leute, die sofort dann irgendwie sich Gedanken machen: die haben sich dem unterworfen oder so was.“

LUTZ: „Vielleicht ist es auch so, dass ich als jemand, der im Radio eine Sendung gemacht hat, sich nicht auch noch hinstellen kann und sagen kann: „Ihr habt euch vor den Karren spannen lassen“, weil ich war ja auch Teil dieses Karrens, das überlasse ich anderen. Wenn du einen Fördervertrag hattest, dann hattest du einen Fördervertrag. Okay, Ende der Durchsage. Wenn sie dann angefangen haben, schlechtere Musik zu machen oder bestimmte Texte nicht zu machen, dann fange ich schon an zu sagen na ja, ist jetzt aber doof, Ich will eigentlich gute Musik und gute Texte hören, dann interessieren die mich nicht mehr so richtig.“

JÖRG: „Ich hätte die Session auf jeden Fall gemacht, wenn es möglich gewesen wäre, aber, aber ich muss jetzt im Nachhinein sagen, vielleicht war es besser so, dass wir die nicht gekriegt haben. Da müssen wir uns überhaupt nicht irgendwelchen Fragen stellen oder müssen uns überhaupt nicht rechtfertigen dafür. Wir sind wir geblieben.“

Laura: Und trotzdem – für Kaltfront war die DDR eine Sackgasse. Nach dem Mauerfall 1989 löste sich die Band auf. Das lag weniger an den Absagen und der Zensur – den meisten Punkbands dieser Zeit ging es ähnlich.

JÖRG: „Kaltfront war ja schon sehr auf diese DDR-Geschichte, auf diese DDR-Sache ausgerichtet, daran orientiert und da konnte ich mir nicht vorstellen, jetzt in dem neuen Staat, also in dem neuen politischen System, wie das überhaupt funktioniert, weil auf der einen Seite sind gewisse Feindbilder weggebrochen…“

TOM: „Ja, also die musikalischen Feindbilder sind weggebrochen, man konnte auf einmal sagen, was man wollte, man musste sich nicht mehr verstecken hinter seinen Zeilen oder Texte schreiben, wo man reininterpretieren kann oder so. Im Westen konntest du sagen: „Fickt die Bullen“ oder was weiß ich, also das war okay, niemand hat dich dafür irgendwie eingeknastet.“

Laura: Kaltfront macht heute wieder Musik – und sie spielen nicht nur die alten Songs von früher, sondern schreiben neue, produzieren ihre eigenen Musikvideos und touren durch seit 2005 wieder durch Deutschland. Jörg und Tom haben ihren Traum nicht aufgegeben, ihn sogar an die nächste Generation weitergegeben.

Lukas: Denn auf der Bühne in Dresden steht heute auch Jörgs Sohn, Willy. Der neue Gitarrist der Band. „No Future“ – der berühmte Punk-Slogan, der bis heute auf etlichen Hauswänden prangt – der gilt vor allem für diese Band nicht: Kaltfront.

Publikum ruft „Zugabe, Zugabe!“

Tom auf der Bühne: „Vielen Dank – es ist so schön wieder hier zu sein. Ein ganz besonderes Gefühl, in unserer Heimatstadt, Dresden. Hier kommt der nächste Song…“