ME/CFS: Im Dunkeln und Stillen

Kein Licht, keine Geräusche, kein Besuch: Julia Weigert liegt seit Monaten im Bett. ME/CFS hat ihr Leben stillgelegt. Dieser Beitrag von Salome erzählt von einer Krankheit, die Millionen von Menschen betrifft, aber kaum jemand kennt.

Ein Geburtstag in Stille

Salome flüstert:

„Hey liebe Jule, ich wünsche Dir alles alles Gute zum Geburtstag. Ich hoffe, der Kuchen hat geschmeckt, deine Mama hat mir davon erzählt. Und ich wünsche Dir natürlich nur das Allerbeste, ich hoffe, dieses Jahr geht es bergauf für Dich und ja, ich glaube ganz ganz fest dran.“

Salome: Die Sprachnachricht habe ich meiner Freundin Jule geschickt. Am 26. Mai ist sie 22 Jahre alt geworden. Kerzen, Konfetti und fröhliches Geplapper gab es nicht. Stattdessen: Dunkelheit und Stille.

Julia Weigert, flüstert:

„An meinem Geburtstag hatte ich den gleichen Tagesablauf wie immer, was besonders war, war, dass meine Eltern mir erzählt haben, was ich alles bekommen habe und wer mir gratuliert hat.“

ME/CFS: Eine Unbekannte Volkskrankheit

Salome: Jule hat eine Myalgische Enzephalomyelitis. Oder auch: ME/CFS. Eine Krankheit, für die es aktuell weder Medikamente noch Therapien gibt. In Deutschland sind etwa 500.000 Menschen an ME/CFS erkrankt. Das sind doppelt so viele wie noch vor der COVID-19-Pandemie.

Der plötzliche Wendepunkt

Salome: Die Zeit, in der Jule kerngesund war, liegt Jahre zurück. Im Januar 2022 – kurz nach ihrer dritten Corona-Impfung – ging es Jule plötzlich gar nicht mehr gut. Sie liegt wochenlang nur im Bett, geht monatelang nicht zur Schule. Das Abi packt sie gerade so.

Julia Weigert:

„Am Anfang war ich fünf Wochen lang bettlägerig, wo es auch nicht so sicher war, ob ich des überhaupt überlebe oder nicht. Und seitdem ist es immer so ein Auf und Ab, also es kommt total in Wellen, die Krankheit.“

Salome: Vor einem Jahr habe ich mit ihr darüber noch sprechen können, von Angesicht zu Angesicht. Heute haben wir nur noch über Sprachmemos Kontakt.

Julia Weigert:

„Ich bin einfach insgesamt sehr sehr eingeschränkt, also ich kann fast alles, was ich früher konnte, nicht mehr machen, weil ich eben so schnell erschöpft bin. Also wenn ich schon ein bisschen müde bin zum Beispiel, ist es für mich anstrengend, im Bett ein Buch zu halten oder sowas. Also es sind so ganz alltägliche Dinge.“

Vom Pacing zur totalen Erschöpfung (Crash)

Salome: ME/CFS ist eine neuroimmunologische Erkrankung. Das bedeutet, Jules Abwehrsystem greift ihr Gehirn und ihre Nerven an. Selbst Zähneputzen oder ein paar kleine Schritte können für Jule bedeuten, tagelang im Bett liegen zu müssen. Sie muss lernen, sich ihre wenige Energie über den Tag möglichst gut einzuteilen. Das nennt man „Pacing„. Dadurch kann Jule 2023 zunächst ein Studium beginnen und zieht sogar von zu Hause aus.

Angelika Häussler:

„Sie hat sich zu sicher gefühlt und dadurch viel viel viel zu viel gemacht.“

Salome: Das ist Angelika Häussler, Jules Mutter. Sie ist sich sicher: Das war der Grund für Jules ersten Zusammenbruch – die sogenannte Post-Exertionelle Malaise, oder einfacher: ein Crash.

Der zweite Crash

Salome: Jules Symptome verschlechtern sich schlagartig. Kein Arzt kann ihr helfen. Aus eigener Kraft schafft sie es nicht einmal mehr, ihren Kopf zu heben. Die gelben Wände in ihrem Zimmer sind für sie im Halbdunkeln fortan grau. Seit dem 22. August 2024 ist Jule nicht mehr aufgestanden.

Nach vier Wochen im Bett schickt der behandelnde Arzt eine Physiotherapeutin zu Jule. Der Besuch ist für sie nicht zu bewältigen – körperlich und mental. Sie crasht zum zweiten Mal.

Angelika Häussler:

„Ab da waren wir immer bei ihr und haben eigentlich Händchen gehalten, weil sie ja wirklich Todesangst hatte, ja. Und hat halt immer gesagt: Ich will nicht sterben, ja. Das hat sie so… Sie hat nicht viel gesagt, nur immer gewimmert, sie will nicht sterben.“

Rund um die Uhr Betreuung

Salome: In Jules Zimmer sind die Rollläden seitdem immer unten. Im ganzen Haus wird nur sehr leise gesprochen. Jule braucht rund um die Uhr Betreuung.

Angelika Häussler:

„Also, einer von uns ist immer bei ihr im Zimmer. Auch nachts schlafe ich neben ihr, ja, weil sie sich dann sicherer fühlt.“

Salome: Zu Besuch kommt niemand mehr. Jeder kleine Reiz könnte einer zu viel sein.

Nachrichten von ihren Freundinnen spielt Jules Mutter ihr vor. Und oft ist auch das schon zu laut. Deswegen fasst Angelika Häussler ihrer Tochter die Memos flüsternd zusammen. Manchmal schafft es Jule, selbst zu antworten. Dazu legt sie dicke Handtücher auf ihr Gesicht, damit das Handy sie nicht blendet.

Julia Weigert, flüstert:

„Ich freue mich immer ganz ganz arg über eure Nachrichten und ich denke auch ganz oft an euch. Und dann freue ich mich auch immer, dass ich so gute Freundinnen habe, die alle zu mir halten jetzt. Und ich freue mich auch, euch alle wiederzusehen, aber das braucht jetzt schon noch ne Weile.“

Ein Lichtblick für Betroffene

Salome: Wie lange genau, ist kaum abschätzbar. Jeder Krankheitsverlauf ist individuell. Die Medikamente, die sie nimmt, sind nicht auf ihre Krankheit zugeschnitten.

Einen Lichtblick gibt es dennoch. Im April stellten Forschende die Freigabe von Medikamenten für ME/CFS-Patienten bis Ende 2025 in Aussicht. Jule helfen solche Nachrichten, die Hoffnung nicht zu verlieren.

Julia Weigert, flüstert:

„Ich versuche, so möglichst wenig über meine Situation nachzudenken und lebe so ein bisschen in meiner Traumwelt.“