Disziplin, körperliche Schmerzen und harter Konkurrenzkampf – das Berufsbild Tanz ist mit vielen Vorurteilen behaftet. Was macht den Reiz dieser Kunstform aus? Und welche Funktion hat eine Ballettmeisterin in diesem Gefüge?
Martine Reyn bringt jahrzehntelange Erfahrung sowohl als Tänzerin als auch als Mentorin mit, aktuell ist sie am Landestheater Coburg als Ballettmeisterin tätig. Unsere Autorinnen Sofie und Charlotte stellen sich in diesem Beitrag die Frage: Tanz – ein Beruf mit Ablaufzeit?
Martine Reyn: Man tanzt auch mit Fieber. Ich habe sehr, sehr zu kämpfen gehabt mit meinem Achilles und mit meinem Rücken. Dass ich teilweise nicht gehen konnte, aber auf der Bühne getanzt habe. Man macht einfach. Das ist einfach die Liebe zu dem Beruf.
Charlotte: Martine Reyn ist Ballettmeisterin am Landestheater Coburg. Sie tanzt seit ihrem vierten Lebensjahr. Ihre Mutter führte schon damals eine Ballettschule. Schon früh wusste die gebürtige Niederländerin, was ihr Traumberuf ist. Mit zehn Jahren sieht sie im Fernsehen einen Beitrag über das Konservatorium in Den Haag – ein Moment, der ihr Leben für immer verändern würde.
Martine Reyn: Ich wollte – nicht meine Eltern. Im Gegenteil. Das Problem war, das war natürlich weit weg von zu Hause und ich musste bei Pflegeeltern unterkommen. Bin dann mit elf weg von zu Hause, als erstes Kind. Wahnsinnig Heimweh gehabt, aber ich habs durchgezogen. Das war klar.
Charlotte: Ein großer Schritt, der ihr trotz Heimweh den Weg zu einer professionellen Karriere als Tänzerin ermöglicht hat. Mit Engagements in Amsterdam, Mannheim und Innsbruck konnte sie ihren Traum verwirklichen.
Martine Reyn: Das ist wie Topsport, du kannst es nicht machen, wenn du nicht hunderttausend Prozent das willst. Weil dafür ist es zu schmerzhaft. Es gibt so viele Tage, wo du einfach alles aufgeben möchtest und nach Hause, aber dann wieder aufstehst und trotzdem weitermachst. Natürlich brauchst du Talent und du brauchst den Körper – klar. Aber vor allem, glaube ich, ist es die Wille und die Liebe für diese Kunstsache. Also wenn du das nicht willst, dann vergiss es.
Charlotte: Hochleistungssport, intensive Proben von morgens bis abends, fünfeinhalb Tage die Woche – ein Traum, der Spuren hinterlässt. Das sieht auch Michael Freundt so, Leiter der Presseabteilung des Dachverbands Tanz Deutschland.
Michael Freundt: Und dann sieht man schon, dass doch mit einem Alter von 35, 40 Jahren doch viele sagen müssen, dem kann ich in diesem Sinne nicht mehr gerecht werden. Und wir haben dieses Thema der Transition, also des Übergangs in eine andere Berufskarriere, entweder auch im Tanzbereich im weitesten Sinne, als Dramaturgin, als Ballettmeisterin oder in der choreografischen Arbeit – oder als Ballett-Managerin. Und das ist ein ganz starkes Thema.
Charlotte: Tanz – ein Beruf mit Ablaufzeit?
Martine Reyn: Es gibt viele Tänzer, die am Ende seines Berufs natürlich nachdenken müssen, wie es weitergeht. Ich wurde dann gefragt, weil ich sehr strukturiert bin. Pläne machen liegt mir. Training geben habe ich sehr viel gemacht. Das hat dann ein Ex-Direktor gesehen und gesagt, Martine, ich will dich als Ballettmeisterin.
Wie denkst du darüber nach? Und natürlich während dem Leben macht man sich sehr viel Sorgen und denkt mal, wie wird es irgendwann weitergehen.. Es gehen aber immer wieder Türen auf.
Charlotte: Ballettmeister sind für das Können und die Qualität der Tänzer in der Kompanie verantwortlich. Sie leiten die täglichen Trainings, arbeiten mit den Tänzern an ihrer Technik und unterstützen die Choreographen. Sie sind die Schnittstelle zwischen Organisation und Kreativität. Für die heute 54-jährige Martine ein neuer Weg, ihre Leidenschaft mit neuen Aufgaben fortzuführen.
Martine Reyn: Im Moment bin ich so zwischen neun und halb zehn im Saal, bereite mein Training vor, mache das Training für die Tänzer, je nachdem wie sie drauf sind, ob es eine schwierige Woche war oder ob sie Vorstellungen haben. Da muss ich das Training ein bisschen anpassen. Um sechs bin ich fertig und dann gehe ich nach Hause und denke an den Plan für den nächsten Tag.
Charlotte: Aber nicht nur organisatorisches Können gehört zu ihren Aufgaben. Auch Einfühlungsvermögen ist hier wichtig.
Martine Reyn: Und das war damals auch eine Diskussion, die ich hatte mit einer Dame, die ich sagen musste, und mit sehr viel Gefühl habe ich das versucht zu vermitteln, bitte in zwei Wochen sind die Bühnenproben mit Kostüm, vielleicht schaffst du es zwei Kilos abzunehmen bis dahin und sie war sauer.
Charlotte: Hungern für die Kunst? In Zeiten von Body Positivity und dem Bewusstsein für verschiedene Körperbilder eigentlich undenkbar. Ist an den Vorurteilen, dass Ballerinas Hungerhaken sein müssen, also doch etwas dran oder hat es sich verbessert?
Martine Reyn: Verbessert? Glaube ich nicht, weil es bleibt so, dass jemand natürlich seinen Körper zeigt auf der Bühne und dass man jetzt nicht 10 Kilo zu viel haben kann, weil es auch schwierig ist, für einen Mann dich zu heben, wenn du 20 Kilo mehr hast.
Es hat sich sicher geändert, wie man damit umgeht. Aber der Fakt bleibt, wenn du übergewichtig bist, wirst du keinen Job finden, fertig.
Charlotte: Der Markt ist klein, die Konkurrenz ist groß. Michael Freundt vom Dachverband Tanz sagt dazu folgendes:
Michael Freundt: Also wir rechnen etwa mit 10.000 Künstlerinnen, die ja zumindest als einen großen Teil ihrer Arbeit auch Tanzproduktion machen oder in verschiedenen Aufführungen tanzen. Wir haben 1.350, die richtig in festen Ensembles angestellt sind, also in den 60 Stadt- und Staatstheater-Ensembles arbeiten, ja, ziemlich genau 1.350 Tänzerinnen und Tänzer.
Charlotte: Aktuell arbeitet Martine mit ihrer Kompanie an einem neuen Stück namens Nocturne für den vierteiligen Tanzabend Kaleidoskop. Meistens proben die Tänzer an mehreren Stücken gleichzeitig.
Die Folgen der jahrelangen Belastung zeigen sich – nicht nur körperlich. Vorstellungen am Wochenende, wenig Freizeit und wenig Raum für Privates: ein Leben für den Beruf.
Martine Reyn: Ich sage immer Berufung. Mein Beruf ist kein Beruf, es ist Berufung. Ich mache es einfach viel zu gern. Natürlich gibt es eine Ablaufzeit und manchmal denke ich, ich werde natürlich immer mehr müde. Den Beruf Ballettmeisterin von morgens bis abends, Training und die Pläne und die Proben zu leiten, wird schwierig. Ob ich den Beruf machen kann bis 65, glaube ich nicht. Will ich auch nicht, glaube ich. Und ich glaube, irgendwann möchte ich auch gerne mal ein Wochenende haben, so regelmäßig. Wäre schon schön.