Es ist oft nur eine kurze Fahrt, aber sie bedeutet die Welt: Die Initiative „Radeln ohne Alter“ ermöglicht Senioren kostenlose Rikscha-Ausfahrten. Leonie Schaber war dabei, als Hans Witzgall (85) den Fahrtwind spürte und von seinem Schicksal erzählte.
Fahrradklingeln, Geräusch von fahrendem Fahrrad auf Teer
Die Geburtsstunde von „Radeln ohne Alter“
Dienstagmorgen, 10 Uhr. Michael Alliger radelt mit seiner rot lackierten Rikscha durch die Straßen von Gaimersheim, einer kleinen Gemeinde neben Ingolstadt. Der frische Morgenwind weht durch Alligers kurze weiße Haare. Der 64-Jährige scheint im Ort ein bekanntes Gesicht zu sein. Alle paar Meter trifft der Rentner am Rand seiner Fahrstrecke auf Menschen verschiedenen Alters.
Fahrradgeräusche, Schaltung, Stimmen. Fahrradklingeln, Begrüßung mit „Servus“
Mehrmals die Woche fährt der Ingenieur durch die Straßen und die Natur der Region. Und das nicht nur zum Spaß, sondern für einen guten Zweck.
Fahrradgeräusche, Schotter
Michael Alliger:
„Die Idee ging darauf zurück, auf den Film „Wer früher stirbt ist länger tot“. Und da hat mich eine Szene sehr stark beeindruckt. Und zwar als eine Frau mit ihrem Bett mit Rollen dran eine Wiese runter gerauscht ist und dabei an die Jugend gedacht hat. Wo sie mit ihrem Freund auf dem Moped gefahren ist.
Und in dem Moment sah die Frau so glücklich aus. Und da bin ich auf die Idee gekommen später mal, wenn ich in Rente bin, mal so einen Verein zu gründen und die alten Leute wieder mal mit Rikschas rumzufahren und wieder mal Wind in den Haaren spüren zu lassen.“
Sein heutiges Fahrziel: ein Wohnheim. Der Weg dorthin führt über viel befahrene Straßenkreuzungen und schmale Durchgänge. Für den leidenschaftlichen Rikscha-Fahrer kein Problem. Geschickt lenkt Alliger das Dreirad um jede noch so enge Kurve. Der Elektroantrieb des Lastenfahrrads surrt dabei leise. Um Punkt 10:30 Uhr kommt die Rikscha vor dem Wohnheim zum Stehen. Ein älterer Mann mit orange-gefärbter Brille auf der Nase und einer Schirmmütze auf dem Kopf sitzt auf einer Bank vor dem Eingang.
Fahrradgeräusche, Schotter, Vogelgezwitscher
Alliger: „Servus Hans! Hast du Lust auf eine Rikscha Fahrt?
Hans Witzgall: „Ich lasse mich gerne überraschen.“
Aufbruch aus dem Wohnheim: Hans Witzgall auf Tour
Es ist die dritte Ausfahrt, an der der 85-Jährige teilnehmen darf. Mit geneigtem Kopf kommt Witzgall auf die Rikscha zu und begutachtet neugierig die graue Sitzschale auf der Vorderseite des Fahrrads. Eine rosafarbene flauschige Decke ist auf der Sitzfläche ausgebreitet. Sie lädt zum Hinsetzen ein. Alliger greift Witzgall an den Armen und hilft ihm vorsichtig auf den Sitz.
Stimmen, Straßengeräusche
Alliger: „So jetzt stellen wir den Gurt ein und dann können wir los düsen.“
Metallene Gurtgeräusche und Kichern
Alliger: „Okay? Fahren wir los?“
Witzgall: „Ja.“
Alliger: „Alles klar, dann los.“
Witzgall: „Gut.“
Alliger: „Moment.“
Fahrradklingeln
Witzgall erzählt, wie wichtig es ihm ist, das Wohnheim ab und zu verlassen zu können. Angst vor einer Mitfahrt in der Rikscha, mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 15 Kilometer pro Stunde, hat der Rentner nicht.
Fahrradgeräusche, Schaltung, Schotter
Witzgall:
„Just do it. Einfach machen. Da haben wenigsten die, die da vorne drin gefahren werden auch was davon. Die kriegen nochmal richtig was mit, was sie sonst nie mehr sehen. (Wir) kommen hier nicht raus. Wo willst du hin? Einmal mit dem Rollstuhl um das Haus fahren. Die Betreuer haben auch keine Zeit stundenlang mit denen durch die Gegend zu fahren.“
Unfall und die Sehnsucht nach Mobilität
Die Strecke führt an einem See vorbei. Hohe Sträucher umgeben das Gewässer, wie ein Zaun. Es riecht nach Algen. Witzgall schließt die Augen und lächelt zufrieden. Er wirkt dankbar für die Ausfahrt. Selbst Fahrrad fahren ist für den ehemaligen Fleischermeister nicht mehr möglich. Ein tragischer Unfall nach einer Fahrradtour vor zwei Jahren hat sein Leben verändert.
Ein elektrisches Garagentor ist damals ruckartig zugegangen, als Witzgall sein Fahrrad hineinschieben wollte. Die Diagnose: angebrochenes Rückgrat und dreifacher Schädelbruch.
Fahrradgeräusche, Schaltung, Vogelgezwitscher
Witzgall: „Ich weiß nicht, wie ich ins Krankenhaus kam. Ich weiß gar nichts.“
Vogelgezwitscher, Schotter
Witzgall: „So schnell wie ich gestürzt war, so schnell war das Fahrrad auch weg. Ich habe das gar nicht mehr gesehen. Mein Sohn hat das so schnell verkauft, wie ich gestürzt war.“
Witzgall verstummt und schweigt für die kommenden Minuten. Auf einmal bricht sein Schweigen. Alliger bietet an, über eine Musikbox eines von Witzgalls Lieblingslieder abzuspielen. Sofort erhellen sich Witzgalls Gesichtszüge.
Fahrradgeräusche, Schaltung, Schotter
Witzgall: „So jetzt mach die Musik an. Ton ab.“
Musik ertönt und wird langsam lauter
Alliger: „Also Hans, wir fahren jetzt in den Biergarten. Und da gucken wir mal, was wir kriegen. Ob sie außer Bier auch Wasser haben oder irgendetwas anderes leckeres. Und zum Essen suchen wir uns was Leckeres aus, ja?“
Witzgall: „Ich drück dir die Daumen, dass der Biergarten auch geöffnet hat.“
Alliger: „Alles klar, dann los.“