Wanted for telling the truth? – Der Fall Assange

Er ist einer der umstrittensten Akteure unserer Zeit: Julian Assange, Gründer von WikiLeaks. Von der Veröffentlichung des „Collateral Murder“-Videos bis zur Flucht in die ecuadorianische Botschaft. Unser Redakteur Finn zeichnet in seinem Feature die dramatische Geschichte eines Mannes nach, der zur Ikone des digitalen Zeitalters wurde.

Was bleibt nach über einem Jahrzehnt juristischer Auseinandersetzungen, politischer Konflikte und ethischer Debatten? Eine Geschichte über Wahrheit, Macht und den Preis der Aufklärung.

Der letzte Zufluchtsort: Wie die Botschaft zum Gefängnis wurde

London, vor genau 13 Jahren – der 19. Juni 2012. Die Straßen rund um Knightsbridge sind geschäftig, wie immer. Touristen schlendern an den Schaufenstern von Harrods vorbei, Taxis hupen. Irgendwo in der Menge bewegt sich ein Mann entschlossen in Richtung der ecuadorianischen Botschaft. Julian Assange, der Gründer von WikiLeaks, wagt einen letzten, verzweifelten Schritt. Noch weiß er nicht, dass genau dieses Botschaftsgebäude für beinahe sieben Jahre zugleich sein Zuhause und sein Gefängnis sein würde.

Bild von Kevin Snyman via Pixabay

Doch wie konnte es so weit kommen?

Seit August 2010 steht Julian Assange im Visier schwedischer Behörden. Sie werfen ihm sexuelle Übergriffe an zwei Frauen vor. Die schwedische Justiz hat deshalb einen Haftbefehl erlassen und fordert seine Auslieferung von Großbritannien. Doch Assange wehrt sich mit allen Mitteln. Denn für ihn steht viel auf dem Spiel: Er befürchtet, dass eine Auslieferung nach Schweden der erste Schritt sein könnte, um ihn letztlich an die USA zu übergeben. Dort erwartet er eine langjährige Haft – im schlimmsten Fall sogar die Todesstrafe. Kurz nach seiner Flucht in die Botschaft spricht Assange mit ABC News und erklärt:

Julian Assange

„We now have intelligence on public records that the FBI files, in its case, preparation now runs through 48,135 pages.“

Interview mit ABC-News

Die Enthüllung, die die Welt schockierte: Das Video „Collateral Murder“

Finn: Ein gigantischer Rechtsfall – doch warum eigentlich? Die USA werfen ihm vor, durch die Veröffentlichung geheimer Dokumente die nationale Sicherheit gefährdet zu haben. Das wohl bekannteste Beispiel “Collateral Murder”:

„Collateral Murder“ – so nennt WikiLeaks ein Video aus dem Irakkrieg. Es zeigt, wie US-Soldaten aus einem Kampfhubschrauber heraus auf Zivilisten feuern. Darunter auch zwei  Reuters-Journalisten.

„Come on, let us shoot!“ „Look at those dead bastards.“: “Oh it’s their fault for bringing their kids to a battle – thats right”

Soldaten in „Collateral Muder“

Die Bilder lösten weltweit Empörung aus und machten Assanges Plattform WikiLeaks schlagartig bekannt. Eine offizielle Anklage durch die USA wegen der Veröffentlichung gibt es 2012 noch nicht. Die kommt erst Jahre später.

Zurück nach London zu Julian Assange im Juni 2012. Er überquert die Straße und hat nun sein Ziel erreicht –  die ecuadorianische Botschaft. Eigentlich steht er wegen seiner geplanten Auslieferung an Schweden unter Arrest und muss eine Fußfessel tragen. Doch die hat er einfach kurz zuvor entfernt. Er klingelt – und betritt die Botschaft.

Wenig später sickert die Nachricht durch: Kamerateams, Reporter und Schaulustige strömen herbei. Die Polizei riegelt das Gebäude ab und kündigt an, Assange zu verhaften, sobald er herauskommt.
 Die ABC-News-Korrespondentin Lisa Miller berichtet live vor Ort:

 „He is inside. We’ve had that confirmed by the Ecuadorian representatives via a statement. The foreign minister, Ricardo Patino, has said that […] he is seeking political asylum. […] I’ve tried the buzzer on the front door, but no answer.“

Lisa Miller, ABC-News Korrespondentin in London

Assange sitzt fest. Wird ihm die Wahrheit zum Verhängnis?

Vom Teenager zur Ikone: Die Geburt von WikiLeaks

Assange ist ein “digital native”, noch bevor es den Begriff überhaupt gibt. Schon als Teenager hackt er sich in Netzwerke – denn er ist fest überzeugt, dass Informationen frei sein sollten. Später wird er deshalb zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Und er entwickelt Software, um Whistleblower zu schützen.

2006, mit 35 Jahren, gründet er WikiLeaks – eine Plattform, auf der geheime Dokumente veröffentlicht werden können. Schon vor „Collateral Murder“ macht WikiLeaks mit Enthüllungen über Banken, Krieg und Korruption Schlagzeilen.

Das „Manning-Leak“

Nach den ersten Enthüllungen folgt der eigentliche Wendepunkt: WikiLeaks, veröffentlicht ab 2010 zusammen mit führenden Zeitungen wie dem Spiegel, dem Guardian und der ATMO PAPIERFLATTERN: New York Times etwa eine dreiviertel Milliarde vertraulicher Dokumente.

Nicole Dittmer, Journalistin bei Deutschlandfunk Kultur

„Viele Medien haben ja in den vergangenen Jahren bei spektakulären Enthüllungen mit Wikileaks immer wieder kooperiert, zum Beispiel bei den Protokollen aus den US-Botschaften, aber auch schon bei Material über die Übergriffe von US-Soldaten bei ihren Einsätzen.“

Deutschlandfunk Kultur, 2019

Die Hunderttausenden Dokumente aus dem Leak stammen von Chelsea Manning. Als US-Soldatin hatte sie geheime Militärberichte und diplomatische Telegramme kopiert und an WikiLeaks übergeben.

Chelsea Manning:
I stopped seeing just statistics and information and I started seeing people. Counter insurgency warfare is not a simple thing. It’s not as simple as, like, good guys versus bad guys. It is a mess.

Manning wird verhaftet, vor ein Militärgericht gestellt und zu 35 Jahren Haft verurteilt – eine der härtesten Strafen für einen Whistleblower in der US-Geschichte. Nach sieben Jahren Haft wird sie von Präsident Obama begnadigt.

Barack Obama:
“She had served a significant amount of time, that it made sense to commute […] her sentence. […] I feel very comfortable that justice has been served and that a message has still been sent”

Risse in der Allianz

Und diese Botschaft ist deutlich:  Die USA verschärfen die Gesetze gegen Whistleblower, Journalisten und Plattformen wie WikiLeaks. Die Veröffentlichungen lösen politische Debatten und diplomatische Krisen aus. Für Assange spitzt sich die Lage zu. Viele Medien, die anfangs mit WikiLeaks kooperiert hatten, distanzieren sich.

Daniel Bouhs, freier Journalist:
Dieses Verhältnis war schon immer irgendwie ambivalent. Journalisten haben Assange einerseits gerne angezapft, um an das Material zu kommen, […]. Bei der konkreten Zusammenarbeit aber gab es schon immer viel Streit.

Also für Julian Assange war Journalismus immer ein Werkzeug des Aktivismus. Assange[…] hat sich aber […] nicht an journalistische Prinzipien gehalten. Zum Beispiel, wenn es darum ging, Kollateralschäden zu vermeiden.

Assange wollte etwa bei den Unterlagen über die Aktivitäten der US-Soldaten in Afghanistan nichts anonymisieren. Das ging in den Redaktionen, die er […] beliefert hat, dann doch […] zu weit.”

Deutschlandfunk Kultur, 2019

Dass er mit den Enthüllungen ohne Anonymisierung auch Menschen im Irak gefährdet, nimmt er bewusst in Kauf – denn die Wahrheit ist für ihn an dieser Stelle das höchste Gut.

2010, nach den Enthüllungen von WikiLeaks beginnen die US-Behörden, gegen Julian Assange zu ermitteln.

Für Assange und seine Anhänger steht dabei die Wahrheit im Mittelpunkt – das Recht der Öffentlichkeit, zu erfahren, was wirklich hinter verschlossenen Türen geschieht.

Julian Assange 

„If wars can be started by lies, peace can be started by truth. So that is our task and it is your task to go and get the truth”

Julian Assange bei einer Pressekonferenz im Jahr 2014
Julian Assange bei einer Pressekonferenz im Jahr 2014

(vom Original zugeschnitten)
Urheber: David G. Silvers, Cancillería del Ecuador
Lizenz: Dieses Werk ist lizenziert unter CC BY-SA 2.0 (Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 2.0 generisch).
Quelle: Via Wikimedia Commons (Originaldatei: RUEDA DE PRENSA CONJUNTA ENTRE CANCILLER RICARDO PATIÑO Y JULIAN ASSANGE)

Zugriff im Exil

Im Sommer 2010 reist er für einen Vortrag nach London. Kurz darauf erlässt Schweden einen internationalen Haftbefehl wegen des Verdachts sexueller Übergriffe. Assange stellt sich im Dezember 2010 freiwillig der britischen Polizei und wird zunächst in Untersuchungshaft genommen – später lässt ihn die Behörde auf Kaution frei, aber mit strengen Auflagen und einer elektronischen Fußfessel. Er darf England nicht verlassen, die Auslieferung nach Schweden droht. Assange sitzt fest.

Die Vorwürfe aus Schweden bestreitet Assange. Mit seinen Anwälten geht er gegen die Überstellung vor. Erfolglos.

Nachdem alle juristischen Mittel ausgeschöpft sind, entscheidet sich Assange am 19. Juni 2012 für den radikalen Schritt, den ihr schon am Anfang gehört habt: Er bittet in der Botschaft von Ecuador um Asyl.

Julian Assange:
While my freedom is limited, at least I am still able to communicate. Unlike the 232 journalists who are in jail tonight.

Finn: Fast sieben Jahre lebt Assange dort, bis Ecuador ihm 2019 das Asyl entzieht. Die britische Polizei nimmt ihn fest. Assange kommt in ein Hochsicherheitsgefängnis in London. Dort wird er weitere 5 Jahre bleiben.

Bis zu 175 Jahre Haft

2018 erheben die USA 18 Anklagepunkte gegen Assange – 17 davon nach dem Spionagegesetz.

Mike Pompeo, CIA-Direktor:
“It is time to call out WikiLeaks for what it is: A non-state hostile intelligence service.”

Ein Novum – nie zuvor wurde eine Einzelperson nach diesem Gesetz angeklagt. Bei einer Verurteilung drohen ihm bis zu 175 Jahre Haft.

US-Justizministerium (2019) :
„Assange is charged with conspiracy to commit computer intrusion for agreeing to break a password to a classified U.S. government computer.“

Genau diese Feinheit – nicht nur die Veröffentlichung, sondern die Unterstützung bei der Beschaffung der Informationen ist juristisch entscheidend. Doch Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International fordern, die Klage fallen zu lassen – sie sehen darin einen Angriff auf die Pressefreiheit.

Amnesty international:
„Statt der durch WikiLeaks ans Tageslicht gekommenen Kriegsverbrechen stehen nun die Person Julian Assange und sein Verhalten im Mittelpunkt.“„Und daher fordern wir als Amnesty international die USA auf, dass sie die Anklage gegen Assange fallenlassen.“

Die Vorwürfe, Assange sei sexuell übergriffig gewesen, werden nie aufgeklärt. Die schwedischen Behörden stellen die Ermittlungen 2019 wegen mangelnder Beweislage ein.

Assange:
„People ask what gives me hope – well, the answer is right here.“” „Every single day, people like you have watched over this Embassy – come rain, hail and shine.“

Während seiner Zeit im Gefängnis wird Assange zunehmend zum Symbol für den Kampf um Meinungsfreiheit – trotz oder gerade wegen seiner angeschlagenen Gesundheit.

Bild von Kevin Snyman via Pixabay

Deal und Freiheit

Erst im Juni 2024 kommt es zu einer Wende: Assange einigt sich mit der US-Justiz auf einen Deal. Er bekennt sich auf der westpazifischen Insel Saipan in einem Punkt schuldig: dass er illegal geheime Informationen über die nationale Verteidigung verbreitet habe.

Daraufhin wird er freigelassen. Seine Haftstrafe gilt durch die Zeit in London als verbüßt. Seit fast einem Jahr lebt er in Australien.

Julian Assange spaltet die Meinungen: Verräter oder Held? Journalist oder Verbrecher? Sein Fall bleibt ein Prüfstein für Pressefreiheit. Für staatliche Transparenz. Und für unsere Vorstellung von Wahrheit.