Zwischen Platon und den sozialen Medien – Was ist Wahrheit?

Es ist die große Frage der Menschheit: Was ist Wahrheit? Philosophen zerbrechen sich seit Jahrhunderten darüber den Kopf. Immanuel Kant sagte, dass wir dafür unsere Sinne und Verstand brauchen. Doch welche Theorie stimmt denn jetzt? Unser Redakteur Donavan ist für euch ins Thema eingetaucht.

Donavan: Schließ deine Augen und stell dir vor, du sitzt in einer Höhle. Du bist gefesselt. Das einzige, was du siehst, sind Schatten auf der Wand. Du warst schon immer dort. Du kennst keinen anderen Anblick. Die Umrisse vor dir sind deine Wahrheit. Nie würdest du auf die Idee kommen, dass diese Schatten von echten Gegenständen kommen könnten. Denn: Die hast du ja noch nie gesehen.

Eines Tages kommt aber jemand und bindet dich los. Zum ersten Mal erblickst du Tageslicht und siehst die Objekte, von denen die Schatten in der Höhle stammen. Die Sonne blendet dich. Du bist überwältigt von der Schönheit der Welt. Bis zu diesem Moment hat diese Welt für dich nicht existiert. Jetzt aber erkennst du sie. Und du verstehst, dass die Silhouetten in der Höhle nicht die ganze Wahrheit waren. Jetzt kannst du deine Augen wieder öffnen.

Das, was du gerade erlebt hast, ist das Höhlengleichnis. Aufgestellt durch den griechischen Philosophen Platon. Damit wollte er zeigen, wie für uns Menschen das Erkennen von Wahrheit funktioniert. Es ist mit Mühe verbunden. Es kann schmerzhaft sein. Aber wir erweitern unseren Horizont. Wer in der Höhle bleibt, wird die Wahrheit nicht erfahren.

Eine alte Theorie von einem antiken Philosophen. Doch das Gleichnis ist aktueller, als man glaubt. Christoph Asmuth lehrt Philosophie an der Augustana-Hochschule in Neuendettelsau. Und er sieht deutliche Parallelen zwischen dem Höhlengleichnis und modernen Medien.

C. Asmuth: Wenn sie die Leute über Blasen in den sozialen Netzwerken reden hören, ja dann sind das natürlich genau solche Elemente, die Platon kritisiert. Da wird eben nicht nach objektiven Maßstäben geurteilt…

Donavan: …sondern der Blick auf andere Perspektiven bleibt verwehrt. Das heißt: Wer Wahrheit finden möchte, muss offen für einen Perspektivwechsel sein. So lehrt das Platon. Aber wann genau ist denn eine Behauptung wahr?

C. Asmuth: Im Grunde hat die Antike einen praktischen Vorschlag gemacht. Die hat gesagt: Wenn unsere Sätze mit der Wirklichkeit übereinstimmen, dann ist das wahr.

Donavan: Dazu gibt es ein einfaches Beispiel aus dem Alltag. Stellen wir uns vor, draußen regnet es. Wenn ich dann sage: „Ach es regnet gerade“, stimmt meine Aussage mit der Wirklichkeit überein. Ich habe die Wahrheit gesagt. Zugegeben, das ist ein wirklich sehr einfaches Beispiel. Komplizierter wird es, wenn wir zum Beispiel über eine Gerichtsverhandlung sprechen. Da werden Zeugen befragt, Beweismittel angeschaut und Indizien gesammelt.

C. Asmuth: Und so ergibt sich für den Richter irgendwie ein zusammenhängendes Bild von dem Ereignis, das jetzt bei dem Gerichtsprozess in Rede steht. Da ist der Richter gar nicht in der Lage, tatsächlich selbst zu beobachten, was passiert ist.

Donavan: Aber wie soll der Richter da die Wahrheit herausfinden? Schließlich kann er die Wirklichkeit ja nicht mehr mit den Aussagen abgleichen. Die Wahrheitsfindung funktioniert für den Richter ganz anders, wie Christoph Asmuth erklärt.

C. Asmuth: Das Kriterium, das der zugrunde legt, ist die Kohärenz von Aussagen. Deswegen nennt man so eine Theorie, die so etwas macht, Kohärenztheorie der Wahrheit. 

Donavan: Kohärenz bedeutet übersetzt aus dem lateinischen ungefähr Zusammenhang. Der Richter schaut also, ob die einzelnen Aussagen irgendwie zusammenpassen, eine Art riesiges Puzzle-Spiel.

C. Asmuth: Da wird nicht mehr danach gefragt, ob irgendeine Aussage mit dem Sachverhalt übereinstimmt, weil der Sachverhalt ist ja nicht mehr da. Also die Tat ist geschehen, alles schon passiert. Man muss jetzt irgendwie im Nachhinein rekonstruieren. Es stellt sich eine Kohärenz ein und der Richter fällt sein Urteil. Das kann falsch sein.

Donavan: Denn die kohärente und logisch zusammenhängende Wahrheit vor Gericht entspricht möglicherweise nicht der Realität. Zeugen können lügen, Beweise können falsch zugeordnet sein. Trotzdem sprechen wir von Wahrheit. Das heißt: Wahrheit ist immer auch ein ungenauer Begriff. Wenn wir etwas für wahr halten, muss das nicht unbedingt wirklich stimmen. Denn Wahrheit ist auch oft künstlich hergestellt. Das passiert immer dann, wenn wir Aussagen nicht so einfach überprüfen können wie im Beispiel mit dem Regen. Trotzdem können wir aber in vielen Fällen genau zwischen wahr und falsch unterscheiden. Daher sei es wichtig, nach der Wahrheit zu streben, betont Christoph Asmuth. Er sieht vor allem in den letzten Jahren die Wahrheit in Gefahr.

C. Asmuth: Ich glaube, die größte Bedrohung ist, dass es keinen Willen zur Wahrheit gibt. Dass die Wahrheit, ob das jetzt wahr ist oder nicht, keine richtige Rolle. Hauptsache, es passt irgendwie. Man kann damit Wähler ziehen und so, wenn man bestimmte Aussagen trifft, das meine ich damit, dass da so ein Wille zur Wahrheit irgendwie abhandenkommt.

Donavan: Und das ist ein hohes Risiko, besonders für unser Zusammenleben. Denn dass Lügen und Desinformation die Demokratie bedrohen, gehört eben auch zur Wahrheit.