Katharina ist nur wenige Minuten alt, als sie abgegeben wird. Ihre Mutter – jung, unverheiratet, überfordert. Ihre Herkunft bleibt für sie lange Zeit ein Rätsel. Mit 16 schreibt Katharina ihren ersten Brief an ihre leibliche Mutter. In diesem bewegenden Podcast erzählen Alina Jansen und Nathalie Haack Katharinas Geschichte – eine Geschichte von Verlust, Hoffnung und der Frage, was Familie wirklich bedeutet.
Nathalie: Katharina ist 16 Jahre alt als sie ihren ersten Brief an ihre leibliche Mutter schreibt.
Katharina: “Ich würde so gerne verstehen, warum du mich damals einfach so weggeben konntest. War ich dir wirklich so egal?”
Nathalie: Sie ist ein Adoptivkind und sucht damals verzweifelt ihre Wurzeln. Ein langer “Weg aus dem Nebel”. So beschreiben die Adoptierten oft das Gefühl.
Katharina: “Ich habe vor ein paar Jahren erfahren, dass deine neue Familie nichts von mir weiß. Das hat mich, um ehrlich zu sein, sehr verletzt. Ich dachte mir, zuerst gibt sie mich einfach weg und dann verheimlicht sie auch noch, dass es mich gibt.”
Nathalie: Dieses Gefühl, wenn sie feststellen, dass ein Teil ihrer Geschichte, ein Teil von ihnen selbst fehlt. Ein Teil, der verloren ging, als sie den Händen ihrer Mutter entnommen wurden.
Ich bin Nathalie Haack und gemeinsam mit meiner Kollegin Alina Jansen erzählen wir in diesem Podcast Katharinas Geschichte. Es ist die Geschichte einer jungen Frau, die verstehen möchte, woher sie kommt. So beginnt eine Suche, die zwei Jahrzehnte andauert.
Katharina: “Oft komme ich mir so ungewollt vor. Ich habe einfach manchmal das Gefühl, dass ich ja von Anfang an nicht gewollt wurde. Nicht einmal als kleines unschuldiges Baby.”
Nathalie: Die Namen von Katharinas Familie, leiblich und adoptiv, wurden zum Schutz der Personen geändert.
Alina Jansen: “Ich befinde mich jetzt vor Katharinas Haus. Sie wohnt in einem gelben Haus mit einer roten Haustür und ja, jetzt gehen wir mal rein. Ich bin schon sehr gespannt.”
Alina: "Hallo."
Katharina: "Hallo, komm rein."
Alina: "Schön dich zu sehen, schön das es geklappt hat."
Nathalie: Katharina ist erst wenige Minuten auf der Welt, als sie abgegeben wird. Ihre Mutter ist bei der Geburt 1984 erst 20 Jahre alt. Ihr Vater, ein amerikanischer Soldat. Der Geburtsort: unbekannt. Die leiblichen Eltern: „Inkognito“ - so steht es an verschiedenen Stellen in den amtlichen Dokumenten. Also eine Adoption, bei der die leibliche Familie nichts über den späteren Aufenthaltsort des Kindes weiß. Sechs Tage verbringt Katharina im Krankenhaus, bevor sie von ihren Adoptiveltern abgeholt wird. Damit gehört sie zu den 8.543 Kindern und Jugendlichen, die 1984 in Deutschland adoptiert wurden, so die Datenanalyse der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik durch die Technische Universität Dortmund.
Katharina wächst behütet in einem 150 Seelen Dorf auf. Sie ist viel draußen in der Natur. Ihre Adoptivmutter Inge arbeitet nicht und der Vater ist nachmittags zuhause. Nach eineinhalb Jahren bekommt sie einen Adoptivbruder mit dazu. Neben dem Klavierspielen schreibt sie auch gerne und viel. Sie darf sich in jede Richtung entfalten. Auch in den Urlaub, fährt die Familie jedes Jahr. Trotzdem, etwas fehlt.
Katharina: “Ja, ich habe mich auf jeden Fall zugehörig gefühlt. Wobei dieses Wort Zugehörigkeit ein sehr schwieriges Wort für mich ist. Ich hatte nämlich trotzdem auch immer sehr viel Sehnsucht in mir, die ich nicht greifen konnte. Also es geht ja hier nicht nur um Mama, Papa, was weiß ich, sondern um alles. Um unsere Gene, um alles. Und das fängt dann an bei Arztbesuchen, wo du nicht ausfüllen kannst, welche Krankheiten in deiner Familie vorherrschen und hört aber nirgendwo mehr auf.”
Alina: “Es ist ja dann auch irgendwann dazu gekommen, dass du erfahren hast, dass du adoptiert wurdest. Wann war denn dieser Zeitpunkt und wie ist das passiert? Wie sind so deine Erinnerungen daran?”
Katharina: “Ja, das war relativ früh. Ich kann mich nicht mehr direkt an das Gespräch erinnern, weil ich noch sehr sehr klein war. Es war auf jeden Fall vor der Kindergartenzeit, weil meine Eltern gerne wollten, dass wir das einfach von ihnen wissen und nicht plötzlich von irgendjemanden irgendwas hören oder angesprochen werden.”
Nathalie: Inge erklärt ihr, dass sie keine Kinder kriegen kann. Sie war schwer krank. Zeigt den Kindern auch die Narben an ihrem Bauch. Ihre Gebärmutter musste entfernt werden. Aber ihr größter Wunsch war es, Kinder großzuziehen. Als einzige Möglichkeit blieb die Adoption.
Katharina: "Daher hatte ich in diese Richtung, was meine Adoptiveltern angeht, gar nicht so viele Fragen. Das Einzige, was ich mir manchmal gedacht hatte , das war aber dann schon, als ich ein bisschen älter war. Dass sie ja gar nicht mich wollten, sondern halt einfach ein Kind.”
Nathalie: Während ihrer Kindergartenzeit beginnt sie in ihr zu arbeiten. Sie entwickelt Ängste. Katharina stellt sich vor, dass ihre leibliche Mutter kommt und sie mitnimmt. Weg von ihrer Familie.
Katharina: “Des waren ein paar Wochen wirklich Tragik, weil ich jeden Abend wieder nach vorne getapst bin, nachdem ich schon im Bett war und geweint habe und gesagt hab, diese Frau kommt und die nimmt mich mit. Und da wurds mir glaub ich so richtig bewusst, dass da irgendwas komisch ist. Also dass ich ja doch hier lebe und das doch meine Familie ist und gleichzeitig ist aber da diese andere Frau und meine Mama hat dann immer gesagt, naja, die weiß ja gar nicht wo du bist, und das hat mich noch mehr irritiert, dass weiß ich noch, dass ich da oft auf meinem Bett dann saß und mir dachte, wie kann die denn nicht wissen, wo Ihr Kind ist.”
Alina: “Du hast ja gemeint, es gab jetzt nie so ein richtiges Gespräch, sondern es war eher so kontinuierlich, gibts ein Gespräch trotzdem, an das du dich erinnern kannst, wo ihr mal da darüber gesprochen habt?”
Katharina: “ Erst in der Jugendzeit, als ich komplett ausgebrochen bin und gesagt hab, naja, aber ihr müsst doch irgendwas wissen und warum hat sie mich denn weggegeben. Und was war denn da los? Und da wollt ich plötzlich irgendwie alles wissen und meine Eltern haben mir da ganz lange nicht die Wahrheit gesagt. Die haben das weggeschoben.”
Nathalie: Katharinas Eltern haben Angst, ihre Tochter zu verlieren. Sie haben Angst, dass sie zu ihrer leiblichen Mutter gehen könnte. Deshalb bleiben Katharinas Fragen offen. Sie beginnt selbst zu recherchieren. Wenn ihre Eltern weg sind, stellt sie das ganze Haus auf den Kopf. Sie sucht nach ihren Adoptionsunterlagen. Gerade in der Pubertät beschäftigen sich Jugendliche damit, herauszufinden, wer sie sind. Sie wollen perfekt aussehen, sich perfekt verhalten und vor allem unabhängig werden. Für Katharina ist da aber noch viel mehr: Die Suche nach ihrer Herkunft.
Katharina: “Und ich habe zu dem Zeitpunkt dann auch meinen Impfpass gefunden. Den habe ich gegen das Licht gehalten, weil der war überklebt. Und hab da dann zum ersten mal meinen Namen gelesen, den mir meine leibliche Mutter gegeben hatte und meinen ersten Nachnamen sozusagen.”
Alina: “Darf ich dich fragen, wie der Name war?”
Katharina: “Katrin. Und tatsächlich haben meine Eltern mir dann den Namen Katharina gegeben, aufgrund dessen, dass sie eben wussten, dass eigentlich meine leibliche Mama mich Katrin genannt hätte, weil eigentlich wollten meine leiblichen Eltern mich Maria nennen und das wurde dann mein zweiter Name.”
Nathalie: Katharina ruft mit 13 auch bei dem Adoptions-Träger an. Die Stelle vom Jugendamt, über die sie damals vermittelt wurde. Sie erfährt die alte Adresse ihrer Mutter und dass sie jetzt in der USA lebt.
Katharina: “Also das war richtig schlimm emotional für mich, weil ich da eben erfahren habe, dass ich einen Bruder habe, der nur ein Jahr jünger ist als ich. Und dass meine leibliche Mutter den aber großgezogen hat. Also diese Glaubenssätze, mit mir stimmt was nicht - das hat sich noch mal extrem verschärft. Ja und als ich dann beschlossen hab, Ich fahr jetzt zu dieser Adresse. Da hatte ich meine damals beste Freundin dabei. Wir sind mit dem Zug da hin gefahren.”
Nathalie: Als sie diesen Entschluss fasst, ist sie 16 Jahre alt. Katharina ist aufgeregt und hat Angst vor dem, was sie erwartet.
Katharina: “Ich konnte auch gar nicht reden, also ich hab immer zu ihr gesagt, du musst was sagen, ich, ich krieg kein Wort raus. Und wir standen dann vor diesem Haus und sind da dann immer rumgelaufen um das Haus und haben uns aber nicht klingeln trauen. Also es war, wie in so nem Film wirklich. Und irgendwann kam dann mein leiblicher Großvater raus und hat uns beschimpft und mit der Polizei gedroht und uns verjagt. Und in dem Moment habe ich ja gar nicht so weit gedacht, dass der vielleicht gar nicht weiß wer ich bin, sondern ich habe mir immer eingebildet, ich sehe auch so aus wie meine Mutter und deswegen war für mich klar, der hat mich erkannt. Mein Opa sieht mich zum ersten Mal und will mich nicht. Also es war wieder so eine Ablehnung gegen mich.”
Nathalie: Die beiden entscheiden sich, heim zu fahren. Es gibt Streitereien zwischen Katharina und ihren Eltern, weil sie einfach zu ihrem Großvater Rolf gefahren ist. Katharina ist nach alldem so verunsichert, dass sie die Suche nach ihren Eltern erst einmal aufgibt. Innerlich brodelt das Ganze aber weiter. Sie schreibt über ihre Gefühle. Ihre Gedanken gegenüber ihrer leiblichen Mutter Renate verarbeitet sie zum Beispiel in Gedichten.
Katharina: “Jemanden hassen, obwohl man ihn eigentlich lieben sollte, jemanden lieben, ohne ihn zu kennen. Jemanden vermissen, ohne jemals seine Nähe gespürt zu haben, jemandem ähnlich sein, ohne ihn je gesehen zu haben, von jemandem verletzt, ohne zu wissen, wer er ist, das sind meine Gefühle für dich.”
Nathalie: Drei Jahre vergehen. Dann mit 19 Jahren wird Katharina selbst ungeplant schwanger. Für sie ist direkt klar: Sie bekommt das Kind, egal unter welchen Umständen.
Katharina: “Ich hatte so vieles noch nicht verstanden und ich hatte auf so vieles keine Fragen und ich hatte so viel Verwirrung und Wut und Traurigkeit in mir, dass ich mir einfach gedacht habe, dass was sie mir angetan hat, kann ich meiner Tochter nicht antun.”
Nathalie: Mit der Schwangerschaft, verändert sich auch Katharinas Perspektive auf ihre eigene Adoptionsgeschichte.
Katharina: “Ich glaube, durch dieses frühe Mamawerden und dann alleinerziehend sein und so weiter, habe ich auch mehr verstanden, dass eben nicht alles schwarz oder weiss ist und dass ich ja keine Ahnung habe, was meine leibliche Mutter wirklich erlebt hat.”
Nathalie: Die Fragen zu ihrer Adoption quälen sie so sehr, dass sie es nicht mehr aushält, Katharina startet einen neuen Versuch und schreibt einen Brief an ihren Großvater Rolf, in der Hoffnung, dieses Mal Antworten zu bekommen. Diesen Brief hat sie immer noch. Alle Unterlagen, Briefe und Gedichte, die mit ihrer Adoption zu tun haben, hat sie in einem großen blauen Ordner gesammelt. Er ist sehr voll, geht fast nicht zu.
Katharina: “Da stell ich mich am Anfang nur noch einmal vor, wie ich heisse, wann ich eben geboren bin und so weiter. Es war mit Sicherheit etwas unüberlegt, vor ca. zwei Jahren einfach vor ihrer Tür zu stehen und dass sie sich dabei überfahren fühlten, ist Ihnen nicht zu verdenken. Da ich sie allerdings nicht wieder bedrängen wollte, habe ich mich diesmal für den schriftlichen Weg entschieden, in der Hoffnung, dass sie sich in Ruhe Zeit nehmen, um über mein Anliegen nachzudenken. Sie sind wirklich meine letzte Anlaufstelle. Alles was ich von ihnen möchte, sind nähere Daten über meine leibliche Mutter. Haben sie zum Beispiel ihre momentane Adresse oder Telefonnummer oder kennen sie zumindest ihren jetzigen Nachnamen? Ich denke schon, dass ich ein Recht darauf habe, Kontakt mit ihr aufzunehmen und vielleicht wenigstens einmal im Leben ihre Stimme zu hören. Können Sie nicht verstehen, dass ich meine Wurzeln erforschen möchte. Ich möchte mit ihr sprechen, möchte wissen, was der Grund dafür war, dass sie mich zur Adoption freigegeben hat. Bitte geben Sie sich einen Ruck, ich brauche Ihre Hilfe. Wo ich hingehöre weiß ich schon. Ich will einfach nur wissen, wo ich herkomme.”
Nathalie: Rolf zögert nicht lange. Kurz nach Absenden des Briefes meldet er sich bei Katharina. Er möchte sie treffen, bedauert sein grobes Verhalten. Damals hatte er keine Ahnung, dass Katharina seine Enkelin ist. Die beiden treffen sich kurz nach der Geburt von Katharinas Tochter Lara. Eine Stunde verbringt Rolf in Katharinas Wohnzimmer. Er überflutet sie mit Informationen, liest aus Tagebüchern vor, bevor er sich hastig verabschiedet und geht.
Katharina: “Ich hatte 20 Jahre, so gut wie keine Informationen und auf einmal wurde das alles auf mich, wie so drüber geschüttet. Also eigentlich alles was ich so gefragt hab, wieso hat sie mich damals zur Adoption freigegeben und so, das hat er mir alles nicht beantwortet, das war halt so schwierig und da war kein Vater und ansonsten waren es halt ganz viele Infos. Deine Mutter ist dann da nach Amerika gegangen, hat dann geheiratet, hat da diese Kinder, macht jetzt das, hat diesen Mann und so und lebt jetzt da also das war alles so zusammenhangslos für mich und das musste ich dann auch erstmal irgendwie sacken lassen und ich glaub auch, dass ich bis heute eigentlich die Hälfte gar nicht mehr weiß.”
Nathalie: Ein paar Tage nach dem Treffen schickt Rolf ihr einen ausführlichen Brief mit Bildern von Renate und Ihrer Adresse. Zum ersten Mal sieht Katharina ihre leibliche Mutter. Eine mittelblonde Frau. Mitte zwanzig.
Katharina: “Hurra Examen, hat mein leiblicher Opa da hinten drauf geschrieben. Ich glaube, da hat sie ihre Krankenschwester-Ausbildung abgeschlossen. Beziehungsweise die musste sie in Amerika dann noch mal anders durchlaufen, weil das ja da ganz anders ist und die dürfen da ja auch viel mehr, ist ja eine ganz andere Ausbildung und Sie freut sich total. Sie lacht übers ganze Gesicht und macht den Daumen so hoch. Ich glaube, dass sie da sehr stolz ist, dass sie sehr glücklich ist, dass sie jetzt da irgendwie versucht, ihr Glück zu finden.”
Nathalie: Acht Jahre lang schreibt sie Briefe in die USA. An die Adresse, die ihr Rolf damals genannt hat. Immer zwei bis drei Stück, innerhalb von 12 Monaten. Sie beschreibt ihr Leben, ihre Tochter und legt Bilder dazu. Alles vergebens. Ihre Mutter antwortet nicht.
Katharina: “Und ich habe dann sogar in einem der letzten Briefe dann auch geschrieben, wenn sie keinen Kontakt möchte oder haben kann oder wie auch immer, dann soll sie mir doch den Brief bitte einfach zurückschicken, damit ich irgendwie ein Zeichen habe, dass ich dann eben auch aufhören würde, ihr zu schreiben.”
Nathalie: Der Brief kommt nicht zurück. Etwas später schickt Katharina eine Karte. Es ist ein Foto, das sie selbst gemacht hat. Darauf zu sehen ist eine Lichtung mit einer Kapelle, neben der ein Kreuz steht. Hinten drauf steht nur ein Wort: Danke. (kurze Pause) Diese Karte verändert etwas. Kurz darauf, an Katharinas 29. Geburtstag, bekommt sie eine Facebook Nachricht - Von ihrer leiblichen Mutter Renate. Später erfährt Katharina, dass Renate Christin ist. Das Bild von der Kapelle und dem Kreuz löste etwas in ihr aus.
Katharina: “Sie hat geschrieben, dass sie so viel in ihrem Kopf hat, dass sie mir gerne sagen würde. Dass sie aber gar nicht weiss wo sie beginnen soll und dass sie in zwei Wochen in Deutschland sind, sie und ihr Mann. Und dass Sie mich gerne treffen würde, wenn ich das möchte.”
Alina: “Wie war das dann für dich? Das ist ja schon, du hast ja sehr sehr lange gewartet bis du eine Antwort bekommen hast und nicht aufgegeben. Und dann plötzlich kommt diese Nachricht. Was hat es in dir ausgelöst und dann auch noch dieses, diese Frage nach dem Treffen?”
Katharina: “Das war Wahnsinn, weil das eine ist ja, endlich mal was zu hören. Und das andere ist, oh Gott, in zwei Wochen kommt die jetzt. Weil es ist ja trotzdem nie greifbar gewesen, weil ich wusste, sie ist in Amerika. Ich bin hier. Ich hätte des, also damit habe ich überhaupt nicht gerechnet. Ich hatte schon gar nicht damit gerechnet, dass sie sich überhaupt meldet und dann schon gleich auch gar nicht damit, dass sie mich sehen will nach so kurzer Zeit und das war, das war auch wieder sehr überwältigend, ja, also das war. Für mich war zwar klar, also sofort klar, ich mache das, aber es war schon diese zwei Wochen bis dahin waren dann schon auch aufwühlend und haben mich sehr beschäftigt, ja.”
Nathalie: In Katharina brodelt es. Wie soll sie sich verhalten? Was, wenn sie etwas Blödes sagt? Oder fragt? Was, wenn ihre Mutter sich angegriffen fühlt? Sehen Sie sich danach überhaupt je wieder?
Katharina: “Also wir haben uns bei mir getroffen, zu Hause, da fühl ich mich am sichersten. Und dann wollte sie mich umarmen an der Haustür direkt. Und da bin ich erstmal so zurückgeschreckt - Moment mal, ich kenne dich gar nicht, was, warum willst du mich jetzt anfassen? Ja so, und dann ist sie aber auf Toilette gegangen und hat dann irgendwas abgebrochen an der Spüle und kam dann raus und es war ihr natürlich total peinlich und wir mussten dann so viel lachen, weil so eine Tollpatschigkeit so bin ich auch tatsächlich. Also es hätte eins zu eins ich sein können. Und da war dann gleich auch so eine Nähe da, so eine Verbindung irgendwie.”
Nathalie: Die beiden kommen ins Gespräch. Katharina findet Antworten, aber nicht die, die sie erwartet hat. Ihr Bild von der obdachlosen oder drogenabhängigen Mutter, die ihr Kind weggeben musste, löst sich allmählich auf. Renate erzählt, dass sie in einer katholischen Familie aufgewachsen ist. Als sie schwanger wurde, war sie erst 19. In den 80er Jahren waren Schwangerschaften junger, unverheirateter Frauen verpönt.
Katharina: “Der Vater war nicht greifbar. Als amerikanischer Soldat, man hatte da irgendwie keinen Zugriff. Und dann ging das irgendwie nicht. Also man hat, es gab immer nur geheißen, dieses Kind darf nicht sein, das geht nicht, weil da ist kein Vater und man ist nicht verheiratet und deshalb war dass dann ja auch so schlimm in der Nacht, in der ich dann geboren wurde, weil es wurde nicht vorher über Adoption gesprochen.”
Nathalie: Die Nacht, in der Katharina geboren wird. Renate platzt nachts zuhause die Fruchtblase. Ewig traut sie sich gar nicht etwas zu sagen. Es war ja alles unausgesprochen. Sie wusste nicht, was nun passieren würde. Nachdem ihre Eltern erfahren, dass sie in den Wehen ist, bringen sie Renate in einen kalten, dunklen Raum. An das Haus erinnert sie sich nicht mehr. Wahrscheinlich war es ein Entbindungsheim. Entbindungsheime, Mütterheime oder Magdalenenheime sind Einrichtungen, in denen sich bis Anfang der 1980er Jahre Schwangere verstecken konnten. Hausschwangere oder "gefallene Mädchen" nannte man die Frauen, die oft jung, ledig und aus schwierigen Lebenssituationen kamen. Allein in Bayern gab es laut offiziellen Heimverzeichnissen, 27 solcher Einrichtungen. Viele ließen ihre Kinder im Heim zurück und das nicht immer freiwillig. So war es auch bei Renate. Denn kaum ist Katharina geboren, kommt da diese Frau, und nimmt ihre frisch geborene Tochter mit. Sie hört das Baby schreien, darf aber nicht zu ihr. Renate wird laut, will ihr Kind sehen. Schreit. Schlägt gegen Türen. Doch alles vergebens. Katharina ist weg, ohne einmal im Arm ihrer Mutter gelegen zu haben.
Katharina: “Da habe ich dann auch dieses Mitgefühl für sie wirklich entwickelt. Weil ich da ja selber schon Mama war und mir nur gedacht hab: wenn ich meine Tochter auf die Welt gebracht hätte und es wäre irgendjemand gekommen und hätte sie einfach mitgenommen, wie soll man sich davon erholen.”
Alina: “Jetzt ist die Frage, die ich mir gestellt habe. Sie hat ja dann nicht versucht, Kontakt aufzunehmen. Hast du darauf eine Antwort gefunden? Warum sie sich, erst ich sag mal so spät dann gemeldet hat?”
Katharina: “ Ja, sie hat mir erzählt, dass sie die Briefe immer bekommen hat und sie dann gelesen hat. Und dann mehrere Tage immer wieder gelesen und geweint hat und total fertig war und sich immer gedacht hat, sie muss irgendwas tun, aber sie konnte irgendwie nicht. Sie war wie so gelähmt, weil sie hat mir das auch so erklärt, sie wusste nicht, dass ich mich überhaupt hätte melden können.”
Nathalie: Den Müttern wurden die Inkognito-Adoptionen damals oft nicht richtig erklärt. Viele dachten, dass keine Daten über die Mütter notiert werden und ein Kontakt so ausgeschlossen wäre. Nach dem ersten erfolgreichen Treffen, entscheidet sich Katharina dazu, auch ihre Tochter Lara, Renate, vorzustellen. Dass ihre Mutter adoptiert ist weiß die Neunjährige schon, aber Renate kennt sie noch nicht.
Lara: “So grob erinnern kann ich mich jetzt nicht mehr ganz so stark. Ich weiss auf jeden Fall, dass ich sehr nervös war. Also es war auf der einen Seite so, als hätte ich irgendwie was verloren, aber irgendwie auch was dazu gewonnen, weil ich hab ja auch eben erfahren, dass ich dann noch eine weitere Familie hab und ich seh da jetzt auch keinen Vergleich. Es ist jetzt auch kein Wettbewerb, das man sagt die Oma hab ich mehr lieb oder da ist irgendwie, sind mehr Gefühle mit drinnen oder so und deswegen ist es ja eigentlich auch was schönes, wenn man dann sagen kann, man hat dann noch mehr Leute um sich rum, die zur Familie gehören, die man ins Herz schließen kann."
Nathalie: Zu diesem Zeitpunkt weiß Inge, Katharinas Adoptivmutter, schon von dem Treffen. Früher konnte sie damit nicht so gut umgehen, weil sie immer Angst hatte, Katharina zu verlieren. Heute sieht sie das ganz anders. Nach einigen Überlegungen möchte auch Inge die leibliche Mutter Renate kennenlernen.
Katharina: “Ja ihr, ihr Mann ist dann auch immer rumgelaufen und hat die Taschentücher verteilt, das weiß ich noch und ja die haben sich umarmt und die haben sich gegenseitig beieinander bedankt. Und das war sehr und das ist auch jetzt wieder für mich sehr, sehr emotional! Das war fast noch krasser, glaube ich , als ich sie getroffen habe. Also das war wirklich und dann nochmal meine Tochter die hier rumlief und irgendwie hat sich da ja wie so ein Kreis geschlossen glaub ich also so. Es war sehr, sehr viel Heilung.”
Nathalie: Inzwischen pflegen alle drei regelmäßigen Kontakt. Sie schreiben über WhatsApp und telefonieren. Ein- bis zweimal im Jahr besuchen sie sich auch gegenseitig.
Katharina: “Wir laufen auch nicht davon, wenn es hart wird, sondern wir bleiben da stehen und ist es deswegen immer einfach? Nee, also es gibt nach wie vor Momente wo ich mir denke: wieso macht sie das jetzt oder was ist da jetzt wieder oder aber das habe ich sowohl mit meinen Eltern als auch jetzt wieder mit meinen leiblichen Eltern. Aber das ist glaube ich einfach auch normal.”
Nathalie: Lara hat auch ab und zu Kontakt zu Renate.
Lara: “Grundsätzlich fehlt mir schon so ein bisschen der Kontakt, was halt auch wegen der Zeitumstellung vielleicht nicht immer ganz so leicht ist und natürlich hat jeder immer noch so sein Leben und den Alltag, der halt auch läuft . Aber grundsätzlich versuchen wir da schon regelmäßig, irgendwie das aufrecht zu erhalten.“
Nathalie: Für Katharina aber auch für andere Adoptierte wird die Adoption immer ein Teil Ihrer Geschichte bleiben und sie lebenslang prägen. Auch wenn sie schon einige Antworten gefunden hat, bleiben noch viele Fragen offen.
Katharina: “Es gibt glaube ich keinen Tag, ich nicht bewusst oder unbewusst darüber nachdenke oder über irgendwelche Themen, die damit in Zusammenhang stehen, nachdenke und das wird auch nicht aufhören und drum sage ich auch immer, ich wurde nicht adoptiert, sondern ich bin adoptiert. Das ist kein Akt, der mit irgendeiner Unterschrift erledigt ist, sondern es ist eine Lebensgeschichte und hat eine Auswirkung für immer.”
Nathalie: Von den ersten Fragen bis zur ersten Begegnung vergehen mehr als zwei Jahrzehnte. Doch der Weg aus dem Nebel wird für Katharina ein Leben lang weitergehen. “Der Weg aus dem Nebel”. Das war ein Podcast von Nathalie Haack und Alina Jansen.