Grenzfälle - Punk in der DDR (Teil 1)

Was bedeutete Punk in einem Land, in dem Freiheit verdächtig war?
Laura Morais und Lukas Harth tauchen in eine wenig erzählte Geschichte ein – den Sound des Widerstands in der DDR. In Teil 1 unserer zweiteiligen Podcastreihe sprechen sie mit Musikern, Zeitzeugen und dem legendären Radiomoderator Lutz Schramm. Im Zentrum: die Dresdner Band Kaltfront, gegründet 1986 – und noch heute aktiv.
Ein Podcast über Lärm, Leidenschaft und das Überleben einer Subkultur – im Schatten der Mauer.

SZENE: Sendersuche im Radio – Ausschnitt Honecker-Rede, DDR-Nachrichten, Volksmusik, DDR-Radiojingle, bis „Jörg“ (Schauspieler) einen Punk/New-Wave-Song findet; dreht Radio leiser, schreibt ersten Brief als Fan an Lutz Schramm, Bleistift-auf-Papier-Geräusch.

BRIEF AN LUTZ:

Hallo Lutz! Sehr gut kommen die erweiterten Sendezeiten ab 1987. Vielleicht schafft ihr es so ab ca. 1990 das Parocktikum täglich zu senden? Naja, das wäre wahrscheinlich auch nicht das Optimale. Ist schon gut so, alle 14 Tage! Ich habe habe außerdem noch zwei Musikwünsche: „Viva la Revolution“ von The Adicts und „Kick out the Tories“ von Newtown Neurotics. Vielen Dank, es verbleibt in der Hoffnung auf weitere ertragreiche Parocktikum-Sendungen auch 1987 und den allerbesten Wünschen: Starkstrom-Jörg, Heavy Metal rules the world (Achtung Ironie)!

„Jörg“ dreht Radio lauter, Punk-Song erklingt

Lukas: Düsseldorf, Hamburg und West-Berlin. Von dort kommen Punkbands wie Die Toten Hosen, Slime oder Die Ärzte. Aus der Bundesrepublik Deutschland. 

Aber als Punkmusik in Deutschland Anfang der 1980er Jahre auftauchte… Da gab es auch noch ein anderes Deutschland. 

Laura: Die Deutsche Demokratische Republik. Ostdeutschland.

Lukas: Ich bin Lukas Harth. Meine Kollegin Laura Morais und ich – wir haben uns gefragt: Wie war das wohl damals? Mit Punk in der DDR? Gab es das überhaupt? 

JÖRG: „Den meisten ging es einfach nur um diese Lebensart. Dieses Anderssein, andere Musik hören, andere Musik machen, anders aussehen. Und die wurden wie kriminelle Organisationen behandelt. Das waren halt eigentlich fast noch Kinder…”

Laura: Wir wollten dem ganzen auf den Grund gehen und nach Spuren suchen. Was ist damals passiert? Und - welchen Herausforderungen standen die jungen Musiker*innen gegenüber?

JÖRG: “Wir waren uns unserer Schuld oder unserer angeblichen Schuld gar nicht bewusst…”

Liedtext: „Wer bin ich? Und was habe ich getan? Bin ich schuldig und warum?“

Lukas: Wir drehen gemeinsam die Zeit zurück. Wir waren in Berlin, Potsdam und Dresden. Wir sprechen mit Zeitzeugen, Radiomoderatoren, Musikwissenschaftlern. Und wir haben eine Band gefunden, die es bis heute gibt und das alles hautnah miterlebt hat.

Und ihr Name ist: Kaltfront.

Sprachmemo, Lukas an Laura: „Ich steh vor der Location. Hab auch erst den Eingang nicht gefunden…Es ist ganz unscheinbar, sieht sehr links-autonom aus, da war auch so ein Häuschen am Eingang, da steht „Ost-Punk“ dran, also sehr passend. Ich sitz jetzt gerade im Auto und warte auf die Band und habe gerade noch einmal den Briefwechsel durchgelesen und muss sie gleich unbedingt drauf ansprechen. Mal schauen, was sie dazu sagen. Ich bin voll aufgeregt“

Begrüßung JÖRG:
LUKAS: „Bist du auch von Kaltfront?“

JÖRG: „Ja“

LUKAS: „Ah, wer bist du?“

JÖRG: „Ich bin Jörg“

LUKAS: „Du bist Jörg! Grüß dich…“

Lukas: Das ist Jörg Löffler. Er ist Anfang 60. Graue, kurze Haare, schwarze Hose, schwarzes Shirt. Er ist der Bassist von Kaltfront. Eine Punkband, die er vor fast 40 Jahren in Dresden gegründet hat. Eine der wenigen, die es bis heute gibt.

Heute Abend, einen Tag vor Heiligabend, spielt Kaltfront wieder in der Heimatstadt: Dresden. Jörg klettert auf die Bühne der „Chemiefabrik“ – ein links-autonomes Kulturzentrum mitten im Industriegebiet. Überall kleben Sticker, Graffitis zieren die Wände. Etwa 400 Fans haben hier heute Abend Platz. Noch ist es leer. Jörg stöpselt seinen Bass in seinen Verstärker.

Heute mit ihm auf der Bühne: Tom Wittig. Röhren-Jeans, spitze Lederschuhe.  Seine schwarzen, glatten Haare trägt er streng nach hinten gekämmt. Er ist der Sänger der Band. Mit ihm und Jörg sind wir heute, kurz vor ihrem Konzert, für ein Interview verabredet.

TOM: „Wollen wir uns mal ein ruhiges Plätzchen suchen? Komm, wir gehen mal Backstage“

LUKAS: „Oder wollen wir uns ins Auto setzen? Da ist es schön ruhig?“

TOM: „Ja, dann gehen wir ins Auto.“

Laura: Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre schwappt Punkmusik aus England in die europäischen Nachbarländer. Auch in die DDR. Ab jetzt muss niemand mehr schön singen oder ein Instrument spielen können – was zählt, ist die Energie, das Lebensgefühl – die Rebellion gegen die Obrigkeit. Überall gründen sich neue Bands und sie wollen klingen wie die Idole aus Großbritannien: The Sex Pistols, The Adicts, The Clash.

Auch in Dresden gibt es Anfang der 80er zwei bekannte Punk-Bands: „Suizid“ und „Paranoia“. Bei letzterer spielt Jörg Löffler alias Sonic Jörg den Bass. Damals ist er Anfang 20.

JÖRG: „Im Laufe des Jahres, ich glaube, so 85, haben sie sich aufgelöst und ich habe damals neue Leute gesucht und habe mich dann mit dem Gitarristen von Suizid zusammengetan. Und wir hatten da noch einen Schlagzeuger und einen Sänger gesucht. Und daraus ist dann Kaltfront entstanden. 1986“

Laura: Heute würde man sagen eine Supergroup – die Geburtsstunde von Kaltfront: Sonic Jörg, Blitz, Donald und Kanne. Bass, Gitarre, Schlagzeug und Gesang. Provokante Texte auf drei Akkorden. Mehr braucht es nicht für einen Stern am Punk-Himmel. Zumindest in den westlichen Nachbarländern. Doch hier, in der DDR, da waren Punks gar nicht gern gesehen.

Noch bis zum Mauerfall geht das Ministerium für Staatssicherheit in der DDR systematisch gegen subkulturelle Jugendbewegungen vor. 

ERICH MIELKE: „Dabei handelt es sich besonders um solche nach westlichen Verhaltensmustern auftretende Kräfte, wie Punks, Skiheads [Skinheads], Heavy-, Heavy Metals und deren Sympathisanten.”

Laura: Das ist Erich Mielke. Er war über 30 Jahre Minister für Staatssicherheit. Und im ersten Moment mag das unbeholfen und witzig klingen, wenn er sich so verspricht. Aber das war es nicht. 

ERICH MIELKE: “Von derartigen Gruppierungen, Zusammenschlüssen beziehungsweise Konzentrationen gehen, wie Vorkommnisse aus letzter Zeit beweisen, nicht zu unterschätzende Gefahren für die öffentliche Ordnung und Sicherheit aus.”

Laura: Will heißen: Punks sind nicht nur „nicht gern gesehen“– der Staat geht aktiv gegen sie vor, bespitzelt sie und bestraft sie, in vielen Fällen sogar mit Gefängnisstrafen. „Härte gegen Punks“ – so heißt damals offiziell die Agenda Erich Mielkes.

Lukas: Wir sitzen im Auto der Band vor der Chemiefabrik. Langsam beschlagen die Scheiben. Kaltfront-Sänger Tom erinnert sich.

TOM: „Wenn man bunte Haare hatte oder lange Haare, das hat schon ausgereicht. Also alles, was nicht irgendwie uniform war oder nicht reingepasst hat, war der Feind und der musste bekämpft werden. Und dabei handelte es sich ja nicht bloß um Musik und um eine Art Lebensgefühl… Also, das kann man sich heutzutage gar nicht mehr vorstellen. Heute kann man sagen was man will, man kann sich anziehen wie man will. Damals wurdest du von der Straße verhaftet, wenn du irgendwie komisch aussahst oder so… seltsam.“

JÖRG: „Also mir ging es so wie Tom, wir waren uns unserer Schuld oder unserer angeblichen Schuld gar nicht bewusst. Das war ein Ausdruck von dem Lebensgefühl und dass das in so eine Art kriminelle Richtung gezogen wurde, das konnte ich gar nicht verstehen.“

Laura: Das Ministerium für Staatssicherheit – also die Stasi – wich in ihren Repressionen gegen die Subkultur vor keinem Mittel zurück. Jugendbewegungen wie die Punks galten für die Staatsregierung als unkalkulierbares Risiko für die Ordnung, Aufstände und Proteste als um jeden Preis zu verhindern.

Lukas: Allen Gefahren zum Trotz: Bekannt werden mit der eigenen Musik, das wär’s für Jörg und seine Band. Der allergrößte Traum: ihre Musik im Radio zu hören. Vielleicht bei Parocktikum mit Moderator Lutz Schramm, der Sendung für „Spezialmusik“, bei der von der Jörg seit der ersten Stunde Fan ist und Hörerbriefe schreibt? Ist das nur Träumerei oder könnte das wirklich wahr werden? Dazu später mehr.

Laura: Erstmal muss sich die Gruppe um Auftritte kümmern. Eine große Auswahl hatten junge Punkbands wie Kaltfront nicht, wenn sie live auftreten wollten. Zwar gab es inoffizielle Konzerte im Untergrund – erfolgreich und bekannt konnte eine Band damit meist allerdings nicht werden. Im Vergleich zur benachbarten Bundesrepublik, wo die Toten Hosen und die Ärzte sogar in Radio UND Fernsehen zu sehen sind, insgesamt enttäuschende Aussicht für die jungen Musiker*innen aus der DDR. Denn drüben, in der BRD, da sprießen die Punkbands nur so aus dem Boden, verkaufen Platten und machen die Läden voll.

JÖRG: „Wir haben uns dann mit Kaltfront bewusst entschieden Einstufung zu machen, um Konzerte offiziell zu spielen zu können. Mit Paranoia war das kaum möglich. Da haben wir dann so bei diesen Kirchenevents gespielt, wo dann auch Bluesmessen nannte sich das, wo dann im Laufe der Jahre immer mehr Punkbands sich eingezeckt haben, sozusagen. Dann war nicht mehr viel mit Blues. Fast die einzige Möglichkeit zu der Zeit Anfang der 80er mit uns als Punkband irgendwo zu spielen.“

Laura: Eine Einstufung machen – davon hat Jörg gerade gesprochen. Um legal auftreten zu dürfen, braucht Kaltfront eine Spielerlaubnis. Das heißt konkret: sie müssen eine Art Test-Konzert spielen. Eins, mit einer Jury im Publikum. Und in dieser Jury waren Beamte des Kulturministeriums. Vor sich – die Texte der Band. Sind diese und die Musik der Bands in ihren Ohren angemessen und stellen keine besondere Gefahr für das sozialistische System der DDR dar – dann gibt es die sogenannte Einstufung. Eine Art Auftritts-Ausweis oder „die Pappe“, wie sie im Jargon heißt.

TOM: „Es war einfach nicht möglich, ohne diese sogenannte Pappe zu spielen in irgendwelchen öffentlichen Häusern, also nicht im Untergrund oder in irgendwelchen Kirchen oder auf Privatparty, sondern wirklich, wo auch das normale Publikum hinkommen kann. Also diese Einstufung war von Nöten. Das heißt, die Musik wurde gecheckt, die Texte wurden gecheckt und dann wurde entweder gesagt ja oder nein.“

Laura: Diese Einstufung funktioniert wie eine Art Vorzensur. Nur wer dem Urteil der Einstufungskommission standhält, hat also die Chance, seine Kunst weiterhin legal auszuüben. Und geht zum Beispiel ein Text zu weit, kann diese Kommission eine Änderung oder Milderung voraussetzen. Für Kaltfront: ein No-Go.

TOM: „Also wir haben ja unseren Stiefel gefahren, also wir haben weder an den Texten was geändert, noch an der Musik irgendwie. Wir haben das einfach gemacht, was wir wollten. Wir haben uns auch nicht verbogen oder so beim Texte schreiben und überlegt, wo kann man das jetzt so sagen oder so? Nö, haben wir nicht gemacht.
Man musste zwischen den Zeilen lesen. Die waren nicht sehr direkt. Sie waren eher indirekt. Aber jeder, der ein bisschen Grips im Gehirn hat, der konnte schon verstehen, was wir meinten.“

JÖRG: „Es wurde uns manchmal von Veranstaltern gesagt, so im Vorfeld von solchen Konzerten, dass da durchaus auch so Stasi-Leute gekommen sind. Ich kann mir so ungefähr vorstellen, dass das gerade so Kaltfront auch so ne Band war, wo dann so: „Alarmbereitschaft! Kaltfront sind in der Stadt!“ Also ich bin mir ganz sicher, dass bei unseren Konzerten immer Leute da waren, die da zugehört haben und was weiß ich, Texte mitgeschrieben haben oder wie auch immer.“

Laura: Etwa Mitte der 80er begann sich die aufgeheizte Stimmung gegen Punks von Seiten des Staats zu lockern. Der Grund: Die Obrigkeit kann die enorme Popularität des Punks in der Bevölkerung nicht weiter unterdrücken. Die Verhaftungen werden weniger. Die Musik kommt langsam, aber sicher im Mainstream an. Punkbands haben es leichter, eine Einstufung zu bekommen. Davon profitiert auch Kaltfront.

JÖRG: „Das hat sich schon etwas verändert. Mitte der 80er. Aber so ganz easy going war es auch nicht.“

Intro – “Schönen guten Abend und willkommen beim Parocktikum. Heute, wie schon lange angekündigt, mit einem DDR-Spezial…”

Lukas: Das, was sich verändert hat, war die zunehmende Präsenz von Punk im Radio. Im DDR-Radio. Hauptverantwortlich dafür: Lutz Schramm – den hab ihr hier gerade gehört – der Radiomoderator der Sendung „Parocktikum“ – auf dem staatlichen Radiosender DT-64.

LUTZ: „Das Beschäftigen mit Musik, das Hören von Musik, das Abspielen von Musik in einer Diskothek war für mich so aufregend, dass ich ganz sicher war, ich möchte irgendetwas tun, was mich zum Radio bringt.“

Lukas: Lutz Schramm, geboren 1959 in Leipzig wächst in einem linientreuen Elternhaus auf. Sein Vater ist ein bekennendes SED-Mitglied und Kommunist. West-Radio hören – das kommt bei ihm zuhause nicht in Frage. Erst nach dem Tod des Vaters, Lutz ist gerade 14 Jahre alt, kommt er mit dem Radioprogramm aus dem Westen in Berührung. Er ist sofort begeistert. Nutzt jede freie Sekunde zum Radiohören, wünscht sich ein Tonbandgerät zur Jugendweihe und schneidet jede Sendung mit, die ihm unter die Kopfhörer kommt.

Schramm schreibt außerdem schon früh Manuskripte für kleine Features und Sendungen. Musikjournalist werden – für ihn aufgrund des fehlenden Abiturs aber nur Wunschdenken. Mitte der 70er macht er daher die Ausbildung zum Rundfunktechniker im Sendebetrieb des DDR-Rundfunks. In seiner Freizeit ist er als DJ in Diskotheken unterwegs.

Heute lebt Lutz Schramm in Potsdam. Zuletzt arbeitete er beim Rundfunk Berlin-Brandenburg und leitete die Online-Produktion des Senders. Jetzt ist er in Pension. Wir treffen ihn in seiner Wohnung, in seinem Wohnzimmer. Neben ihm: ein riesiges Regal voller Platten und Kassetten. Er erinnert sich an die musikalische Aufbruchstimmung im Sender.

LUTZ: „Irgendwann in den frühen 80er Jahren hat der DDR Rundfunk festgestellt, dass man ein bisschen was unternehmen muss, damit die Jugendlichen nicht nur Westradio hören. Mit dem, was da an Repertoire zur Verfügung stand, konnte man keine guten Jugendsendungen machen. Und es ist eben so, dass da immer Bedarf war.“

Laura: Lutz Schramms damaliges Spezialgebiet: Das Überspielen von Schallplatten auf Tonbänder. In den Radiostudios des Senders DT-64 eine sehr gefragte Fähigkeit – denn in den Sendungen konnten keine Schallplatten abgespielt werden – nur Tonbänder. Und das was da im Archiv stand? Verstaubt, langweilig, und schon tausend Mal gehört. Wollte also ein Moderator in seiner Sendung eine angesagte, neue Platte auf dem „kurzen Dienstweg“ spielen, dann musste er zu Lutz Schramm. Schnell macht sich der junge Techniker bei den Musikredakteuren einen Namen, auch wegen seiner Expertise und seiner großen Musikkenntnis.

LUTZ: „Und dann habe ich mir die Platte natürlich für mich selber auch umgeschnitten und habe sie auch in meiner Disko gespielt oder habe mich gefreut, dass ich die die Sachen habe. Also insofern dieser Punkt, das war so, die waren so die ersten Berührungspunkte zwischen mir und den Redaktionen, wo sich dann so Kontakte aufgebaut haben.“

Laura: Es dauert nicht mehr lange, da geht für Lutz Schramm nach und nach ein Kindheitstraum in Erfüllung. Der geschickte Rundfunktechniker wird zum Musikredakteur und Radiomoderator. Und er kommt genau richtig. Denn Mitte der 80er, 1986, gibt es in der DDR immer noch großen Bedarf an Jugendsendungen – genau so eine, wie sie Lutz Schramm schon immer machen wollte.

LUTZ: „Also ich habe gesagt, ich möchte eine Sendung machen, in der Musik läuft, die ungewöhnlich ist, die nicht in den nicht in Hitparaden läuft. Das soll aber auch keine Sendung sein, in der ich über Musik rede, sondern es soll eine Sendung sein, in der ich diese Musik spiele und irgendwie alle Spaß haben.“

Laura: Die Geburtsstunde der Sendung „Parocktikum“. Eine Stunde im Monat, donnerstags ab 23 Uhr. Eine Sendung, die die gesamte alternative Musiklandschaft in der DDR nachhaltig beeinflussen sollte. Eine Sendung, die Grenzen überschreitet, Stück für Stück, Song für Song. Ohne, dass es jemand so richtig bemerkt. Ohne, dass er selbst weiß, was er da tut.

LUTZ: „Heute würde ich sagen, ich wollte eine Radio-DJ-Sendung machen. Das durfte man damals nicht sagen. Es also das DJing war verpönt. Weil im Osten hatte man immer im Kopf: ein Medium muss immer belehren. Also die Leute müssen immer irgendwas mitbekommen, was sie entwickelt und nichts darf für sich alleine stehen. Schon gar nicht, dass die Leute sich ihre eigenen Gedanken machen.“

Laura: Sich seine eigenen Gedanken machen – zu Musik, die vor allem Freiheit, Anarchie aber auch Emotionen auf völlig neue Weise in die Gehörgänge der Fans bringt. Mit Musik aus dem Westen und Musik aus dem Osten. Gerade deshalb wird die Sendung „Parocktikum“ immer beliebter in der jugendlichen Bevölkerung. Schrittweise erhöht der Sender DT-64 die Sendezeit. Ab 1987 zunächst auf zwei Stunden alle 14 Tage. Ende 1987 dann sogar jede Woche. Lutz Schramm spielt in diesen zwei Stunden pro Woche die Musik, die die Musikfans nirgendwo bekamen – außer sie hörten illegal Westradio oder kauften Schallplatten auf dem Schwarzmarkt oder über Verwandte im Westen. Für die Punk-Fans: Ein Novum.

LUTZ: „Das hat wirklich eingeschlagen. Also da haben dann Leute, also einer schreibt, der kommt von der Party nach Hause und macht nur noch mal das Radio an und denkt, er ist irgendwie auf einem anderen Sender gelandet und geht da nicht mehr weg und bleibt die ganze Zeit da. Oder andere schreiben: Ich war bei der Armee und habe mir irgendwie die in die in die Hände gebissen, weil ich konnte das alles nicht aufnehmen, was du da gespielt hast."

JÖRG: „Im Staats Radio lief Punk unter anderem war vorher unvorstellbar und da hat sich irgendwas geändert. Also so was nicht. Trotz Gorbatschow oder irgendwie keine Ahnung, gab es nur eine gewisse Auflockerung.“

Lukas: Auch die Punks von Kaltfront sitzen also ab 1987 häufiger vor den Radios – endlich gibt es ein Programm mit ihrer „Spezialmusik“ – dieses Wort nutzt der DDR-Rundfunk damals für Punk und alles, was schräg klingt. Vor allem Jörg ist begeistert – er schreibt sogar Fan-Post. Parocktikum hören wird für sie und viele andere ein Ritual, ein fester Termin in der Woche. Zwei Stunden pure Freiheit.

TOM: „Also diese Sendung von Lutz Schramm, die war natürlich zu DDR Zeiten ein absolutes Tor für Leute, die jetzt kein Westradio hören oder Westfernsehen sehen konnten, weil dort halt wirklich alternative Musik gespielt wurde aus den aus dem Westen, aus dem Osten usw. Ich hab früher mal John Peels Musik gehört, hab das auch mitgeschnitten auf einem Kassettenrekorder usw und so fort und also Schramm war im Grunde genommen der John Peel des Ostens, kann man so sagen und er hat also ganz viel für die Szene auch getan.“

Lukas: Für Moderator Lutz Schramm und die Musik in seiner Plattenkiste: eine Gratwanderung. Denn trotz aller Lockerungen – er wurde von höheren Instanzen im Rundfunk kontrolliert, gefiltert und – zensiert.

LUTZ: „Also die wollten eigentlich, dass alles so bleibt, wie es ist. Und das funktioniert natürlich, wenn jeder, der neu dazukommt, nur das machen kann, was er schon von den anderen sieht und gar nicht auf die Idee kommen soll, was zu machen, was noch keiner gemacht hat. Wenn er nur das macht, was die anderen machen, dann macht er nichts falsch.“

Lukas: Ausloten. Grenzen austesten, Grenzen aufweichen. Nicht mit dem Kopf durch Wand, sondern Track für Track. So gestaltet Lutz Schramm seine Sendung – dabei sein Hauptkriterium: Musik spielen, die ihm gefällt. Kennedys, The Clash, die Einstürzenden Neubauten. Irgendwie revolutionär. Doch – war Lutz Schramm ein Revoluzzer? Und seine Sendungen so politisch, wie man es sich vielleicht vorstellen mag?

LUTZ: „Natürlich waren sie politisch, also irgendwie war ja alles politisch, was man in der DDR gemacht hat, wenn man es öffentlich gemacht hat. Aber ich glaube auch nicht, dass sie irgendwie dazu geführt haben, dass sich Dinge geändert haben. Also vielleicht in den Köpfen von Leuten. Das ist auch was, wo ich bei dem Feedback, was ich bis heute kriege von Leuten, die mir sagen: Die Sendung war dazu da, meine musikalische Welt zu formen. Aber das ist jetzt für mich nicht per se politisch, sondern das ist einfach auch was Kulturelles.“

Lukas: Das Parocktikum mit Lutz Schramm ist nicht nur ein Tor für junge Hörer*innen. Auch kleine, unbekannte Bands aus der gesamten Republik sehen in seinem Programm ihre Chance. Sie nehmen Kontakt zum Moderator auf, schicken ihm Briefe und Demo-Tapes. Endlich gehört werden, bekannt werden, vielleicht den Durchbruch schaffen. Genau wie – Kaltfront.

LUKAS: „Jörg, kannst du dich noch daran erinnern wie du den Kontakt aufgenommen hast zu Parocktikum?“

JÖRG: „Erinnern nicht, muss ich gleich mal so sagen, erinnern nicht. Aber ich kann das so rekonstruieren, dass ich da vermutlich eine Kassette hingeschickt habe, irgendeine Demo von Kaltfront mit der Bitte: Hör mal rein und vielleicht hast du ja Bock mal was zu spielen von uns. So wird es höchstwahrscheinlich gewesen sein.“

BRIEF an Lutz:

Hallo Lutz, anbei eine Demokassette. Kaltfront gibt’s seit Herbst 86. Im Januar wurde diese Kassette aufgenommen, leider ist die Qualität nicht so besonders. Der Bass klingt eher wie Schlüppergummi und der Gesang ist etwas zu leise. Naja. Es gibt schlimmeres. Also dann, viel Spaß. Jörg

JÖRG: (lacht)„Der Bass klingt eher wie Schlüppergummi…“(Band lacht)

Lukas: Von Lutz Schramm erhalten wir den kompletten Briefwechsel zwischen ihm und dem jungen Jörg Löffler. Er hat so gut wie alles aufgehoben. 25 Briefe schreiben sich die beiden zwischen Dezember 1986 und Mai 1987. Bei unserem Interview vor dem Konzert bringen wir den Stapel mit. Im spärlichen Deckenlicht des Tourbusses sieht Jörg sie das erste Mal seit knapp 40 Jahren wieder.

JÖRG: „Handschriftlich auch noch?“

LUKAS: „Ja, das ist wirklich eure komplette Korrespondenz.“

JÖRG: (lacht) „Was ist denn das? Starkstrom-Jörg? Mach das weg, mach das weg! (Gelächter der Band) Nein, nein, nein! Alles verbrennen, alles verbrennen! (lacht) Das war die Überraschung, die du mir vorhin angekündigt hast? Ja, okay, das ist ja gelungen. Das ist wirklich ne Überraschung.“

Lukas: Aufbruchstimmung – Freiheitsgefühl – Punk im Radio: Könnte dieser Briefwechsel zwischen Jörg Löffler und Lutz Schramm tatsächlich der Schlüssel zu einer Karriere als Musiker in der DDR sein?

Laura: Wenn ihr wissen wollt, wie es mit Kaltfront und Lutz Schramm weitergeht und was da alles in diesen Briefen steht, dann bleibt unbedingt dran. Denn das erfahrt ihr in Teil 2 unseres Podcasts – Grenzfälle. Punkbands in der DDR.

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