Wie lebt man, wenn der eigene Körper zur Belastung wird? Kristina Dettmer leidet an ME/CFS – einer Krankheit, die selbst einfache Handlungen wie Butter schmieren zur Herausforderung macht. Doch das Ausmaß bleibt oft unsichtbar. Im Podcast erzählt Janina Schrupp von den täglichen Kämpfen der Betroffenen und gibt Einblicke in eine Krankheit, die 240.000 Menschen in Deutschland betrifft – und doch kaum erforscht ist.
Janina Schrupp: Damit du verstehen kannst was gleich folgt, hab ich eine Bitte an dich.
Setz dich irgendwo gemütlich hin, mach deine Augen zu und konzentriere dich auf deine Atmung.
Jetzt lass einfach mal alle Anspannung los, fühl dich in deinen Körper hinein. Beweg die Zehen, die Arme und die Beine ein bisschen.Nun solltest du ein gutes Körperbewusstsein hergestellt haben und bist bereit, dich in folgendes Szenario hineinzuversetzen.
K. Dettmer: Allein dieser Akt in die Mitte von diesem Tisch zu langen: Wenn man sich vorstellt, dass sein Arm irgendwie einen Zentner wiegt, wo man gar nicht weiß wie man dieses Gewicht um 20 Zentimeter hochheben soll und dann noch mit Kraft in Anführungszeichen ne Butterdose zu nehmen- das war mir nicht möglich, so blöd das klingen mag. Meine Schwester hat mir dann die Butter gegeben, letztendlich habe ich es nicht mal geschafft richtig mein Brot zu schmieren, weil ich dieses Messer nicht greifen konnte.
J. Schrupp: Das ist Kristina Dettmer. Ich weiß nicht wie es dir geht, aber ich konnte die Situation, die sie da beschreibt nicht wirklich nachempfinden. Kristina erzählt dabei so gelassen, so locker. Aber ist der Grund, wieso sie die Butter nicht mehr hochheben konnte ist ziemlich ernst. Kristina kann sich nicht mehr auf ihren Körper verlassen und schon so einfache Tätigkeiten sind für sie oft mit einem extremen Kraftaufwand verbunden – Das kommt nicht von irgendwo her, Kristina hat diese Beschwerden aufgrund einer Krankheit: Sie leidet an ME/CFS.
Veronika Reinhold: Die Alleingelassenen – MECFS, mehr als nur Erschöpfung. Ein Podcast von Janina Schrupp.
J. Schrupp: Als ich das erste Mal von ME/CFS höre, habe ich keine Ahnung was das ist. Und es wird auch nicht besser, als ich den ganzen Namen näher betrachte - Myalgische Enzephalomyelitis und Chronic Fatigue Syndrom – klingt sehr kompliziert und mir ist immer noch nicht klar, was das eigentlich bedeutet. Ich klick mich durch mehrere Foren und lande schließlich auf der Website der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS. Dort steht:
Luisa Filip: „Typisch für ME/CFS ist die Post-Exertional Malaise, eine ausgeprägte und anhaltende Verstärkung aller Symptome nach geringer körperlicher und geistiger Anstrengung. Sie tritt typischerweise schon nach geringer Belastung auf. Schon kleine Aktivitäten wie Zähneputzen, Duschen oder Kochen können zur Tortur werden. “
Vincent Schulz: „Laut einer Studie ist die Lebensqualität von ME/CFS-Erkrankten oft niedriger als die von Multiple Sklerose-, Schlaganfall- oder Lungenkrebspatienten. Ein Viertel aller Patienten kann das Haus nicht mehr verlassen, viele sind bettlägerig und auf Pflege angewiesen.“
L. Filip: „Viele Betroffene leiden zudem unter ausgeprägten Schmerzen wie Muskel-, Gelenk- und Kopfschmerzen. Hinzu kommen Muskelzuckungen und -krämpfe, massive Schlafstörungen und neurokognitive Symptome wie Konzentrations-, Merk- und Wortfindungsstörungen sowie die Überempfindlichkeit auf Sinnesreize. Schwerstbetroffene müssen deshalb oft in abgedunkelten Räumen liegen und können sich nur flüsternd mit Angehörigen verständigen.“
J. Schrupp: Ein Satz ist auf der Webseite besonders hervorgehoben: Sprecher 4: „ME/CFS gehört zu den letzten großen Krankheiten, die kaum erforscht sind.“
240.000 Betroffene gibt es hochgerechnet in Deutschland. Seit 50 Jahren ist die Krankheit hierzulande bekannt. Deshalb wundere ich mich, weshalb ich vorher noch nie von der Krankheit gehört habe. Ich rufe bei der deutschen Gesellschaft für ME/CFS an und spreche mit Sebastian Musch, einem der Vorsitzenden. Er erklärt mir:
S. Musch: Man sieht den Betroffenen nicht an, wie schwer erkrankt er ist. Nur die engsten Angehörigen und Vertrauten sehen eben wenn die Symptome danach – die Betroffenen sprechen von dem Crash, wenn sie crashen alle Symptome aufflammen und sie für die nächsten Stunden, Tage manchmal sogar Wochen anhalten – dann sind die komplett aus dem Stadtbild, aus der Gesellschaft verschwunden und man sieht sie deswegen auch nicht mehr und deswegen nimmt man sie auch nicht wahr.
J. Schrupp: Das merke ich sehr deutlich als ich mich mit Kristina Dettmer treffe. Die 33-Jährige Kinderkrankenschwester ist vor rund eineinhalb Jahren an ME/CFS erkrankt und hat sich bereit erklärt, mit mir über ihre Situation zu sprechen. Wir telefonieren und vereinbaren ein Treffen. Wir verabreden uns in einem Kaffee, in München. Als ich Kristina dann das erste Mal sehe, bin ich kurz verwirrt. Kristina begrüßt mich freundlich, wirkt sehr offen und lächelt viel. Ihre schulterlangen blonden Haare trägt sie offen, und sie ist dem Wetter entsprechend sommerlich gekleidet – ich merke Kristina mit keinem Deut ihre Erkrankung an. Wir unterhalten uns lange, fast drei Stunden sitzen wir zusammen. Und langsam realisiere ich immer deutlicher, wie anstrengend das Treffen für Kristina eigentlich ist. Von unserem Telefonat ein paar Tage vorher war, gesteht sie mir, musste sie sich erstmal einen Tag lang erholen.
In dem Moment wird mir etwas klar: Stichpunkt Post-Exertional-Malaise – die Symptome treten mit Zeitverzögerung, also zum Beispiel am nächsten Tag, verstärkt auf. Den Moment wenn es wirklich schlimm wird, bekomme ich als Außenstehender bei ME/CFS-Betroffenen also wirklich nicht mit. Ich möchte besser verstehen, wie es Kristina geht und wie sich MECFS auf ihr Leben auswirkt. Deshalb bitte ich sie einen Tag lang Tagebuchaufzeichnungen zu führen und einen Einblick in ihren Alltag zu geben. Kaum zu glauben, was sie mir später an Aufzeichnungen übergeben wird. Zum Beispiel diese:
K. Dettmer: Guten Morgen. Wobei es leider wieder mal kein guter Morgen ist. Vor 12 Stunden bin ich ins Bett gegangen und es war keine Gute Nacht. Ich war wieder mal komplett nassgeschwitzt, sodass ich meinen Schlafanzug wechseln musste und die Bettseite wechseln musste weil alles nass war. Jetzt liege ich seit 20 Minuten im Bett und versuche mich mental darauf vorzubereiten aufzustehen. Wie wenn man erstmal für diese zehn Schritte wahnsinnig Energie tanken muss, ja wie wenn selbst Aufstehen so viel Energie kostet als wie wenn ich jetzt ein Gewichtheber bin, der hundert Kilo nach oben stemmen muss – also vom Anstrengungsgrad her. Meine Gelenke schaffens weder von der Kraft den eigenen Körper richtig zu halten und dann tut es einfach noch unglaublich weh, wie wenn man eben zwei Betonklötze an den Beinen hat.
J. Schrupp: Wir gehen schließlich vom Kaffee in einen nahgelegenen Park und setzten uns auf eine Bank. Hier erzählt mir Kristina, wie sich ME/CFS in ihr Leben eingeschlichen hat.
Im Sommer 2017 bricht ihr Kreislauf zusammen und sie kommt ins Krankenhaus. Die Ärzte dort stellen eine Erstinfektion mit dem Epstein-Barr-Virus fest – Kristina hat also das Pfeiffersche Drüsenfieber. Davon hat sie sich nie vollständig erholt.
Wie Kristina berichten viele ME/CFS-Patienten vom Ausbruch der Krankheit nach einem viralen Infekt, wie der Grippe, dem Norovirus oder dem Pfeifferschen Drüsenfieber. Die genauen Ursachen sind bislang jedoch noch unklar. Uta Behrends ist oberärztliche Leiterin der Spezialsprechstunden für Hämatologie und Immunologie an der Kinderklinik München-Schwabing. Sie erforscht mit EBV-assoziierte Krankheiten und in diesem Zusammenhang auch ME/CFS bei Kindern und Jugendlichen. Sie war es, die Kristinas Diagnose stellte. Zur Entstehung von MECFS sagt Behrendsfolgendes:
U. Behrends: Also zusammengefasst gibt es mehrere Einzelevidenzen dafür, dass zumindest bei einem Teil der Patienten mit CFS eine Autoimmunkrankheit vorliegen könnte: Das eben Antikörper gegen Strukturen gebildet werden, die vielleicht zum einen gegen das Virus gerichtet sind und zum anderen ausversehen gegen eine Struktur des menschlichen Körpers. Man kann sich gut vorstellen, dass es mit ner Autoimmunkrankheit beginnt die eben ihre Endstrecke am Energiestoffwechsel hat, aber wo da die einzelnen Links sind und wie da das System miteinander spricht müssen wir noch aufdröseln.
J. Schrupp: Auch einige Studien legen nahe MECFS könnte mit einer schweren Störung in den Kraftwerken der Zelle – den Mitochondrien einhergehen.
Wie bei einem defekten Akku laden sich deshalb die Energiereserven nicht mehr vollständig auf.
Auch eine genetische Vorbelastung könnte bei der Krankheit eine Rolle spielen. O-Ton 2 Behrends: Es gibt auch ein etwas erhöhtes Risiko für CFS wenn die Mutter erkrankt ist – was gut dazu passen könnte, dass es eventuelle eine Krankheit ist wo die Mitochondrien eine Rolle spielen, weil der Vererbungsmodus für Mitochondria-Erkrankungen über die Mutter geht.
K. Dettmer: Im Radio haben sie gerade gesagt, dass heute ein neuer 28 Grad superschöner sonniger Tag auf uns wartet, aber ich habe letzten Sommer leider schon und die letzten warmen Tage die Erfahrung machen müssen, dass mein Kreislauf die Hitze leider nicht packt, sodass ich bei dem wunderschönen Wetter den Großteil der Zeit, anstatt einfach mal auf dem Balkonstuhl oder in meiner Hängematte, wohl doch wieder auf der Couch verbringen werden wo es kühler ist. Ansonsten steht heute nur noch einkaufen und Medikamente holen aus der Apotheke auf dem Programm - und das wars dann heute auch, mehr wird wohl nicht drin sein.
J. Schrupp: Freundschaften pflegen, in den Urlaub fahren, die Zukunft planen, eine Familie gründen, Karriere machen – Du und ich, wir alle haben eine Vorstellung davon, wie unser Leben aussehen soll. Kristina eigentlich auch. Sie hat sich zum Beispiel immer Kinder gewünscht.
Auch ihr Job liegt ihr am Herzen, sie arbeitet eigentlich als Kinderkrankenschwester in der Kinderklinik in München.
Wegen ihrer Krankheit geht das nicht mehr.Ihre Möglichkeiten haben sich seit dem Ausbruch extrem geschmälert. Damit ist sie kein Einzelfall, so berichtet Musch von der Deutschen Gesellschaft für MECFS:
S. Musch: Bereits bei Menschen die nur einen sehr leichten Verlauf des Krankheitsbilds haben, auch dann sieht man, dass die bereits 50 Prozent ihres Leistungsniveaus verlieren. Also wenn man sich so einen normalen Tagesablauf vorstellt, wir stehen irgendwie morgens auf, essen was, machen die Morgenhygiene und bestreiten dann unseren Tag und dann kann man sagen, auch wenn die Krankheit nur leicht verläuft bei diesen Betroffenen halt quasi Mittags Schluss ist.Sprecher 1: Wie soll man da ein Haus, einen Job, eine Beziehung und dann auch noch Kinder managen?
K. Dettmer: „So jetzt bin ich gerade von meinem kurzen Ausflug zur Apotheke zurückgekehrt, fühl mich wie wenn gerade einen Halbmarathon gelaufen wär und bin um knappe 50 Euro wieder ärmer jedoch um diverse Nahrungsergänzungsmittel reicher wie Magnesium, Zink, Coenzym ko10, Ceelen – alle kleinen Mittelchen die eventuelle Verbesserung der Symptomatik versprechen, auch wenn ich ehrlich gesagt keinen mega Unterschied seit ich die Sachen nimm gemerkt habe. Aber man greift sich ja jeden Strohhalm um die Situation irgendwie zu verbessern – leider ein sehr teurer Strohhalm auf Dauer da dies alles Medikamente sind, die nicht auf Rezept verordnet werden sondern Selbstzahlermedikamente werden. Aber was tut man nicht alles um irgendwie die Situation zu verbessern“.
J. Schrupp: Je mehr ich mich in das Thema einarbeite desto mehr wird mir klar: ME/CFS hat nichts mit normaler Müdigkeit oder Erschöpfung zu tun – so wird die Krankheit in der Öffentlichkeit oft wahrgenommen. Im Gegenteil: MECFS ist eine komplexe chronische Krankheit – für die es kein Heilmittel gibt. Für Betroffene besteht momentan kaum eine Chance, je wieder beschwerdefrei zu leben.
Um die Lebensqualität zumindest aufrechtzuerhalten oder leicht zu verbessern, sollte eine eine symptomorientierte Behandlung erfolgen – denn die Liste an möglichen Symptomen ist lang und setzt sich bei jedem MECFS-Patienten individuell zusammen. Bestimmte Medikamente können zum Beispiel die Muskel- und Gelenkschmerzen mildern. Außerdem müssen Betroffene lernen, mit ihrer Energie vorsorglich zu wirtschaften um die Post-Exortional-Malaise, also die Verstärkung aller Symptome nach einer Überanstrengung, zu vermeiden. Hat sich der Zustand nämlich einmal verschlechtert, lässt sich das kaum rückgängig machen – Ein ME/CFS-Betroffener regeneriert nicht so wie gesunde Menschen. Um das zu vermeiden muss der Betroffene seine eigene Belastungsgrenze gut kennen.
Deshalb ist es wichtig, eine kompetente Ärztin oder einen kompetenten Arzt an seiner Seite zu haben. Hier gibt es aber ein Problem. Den geschätzt 240.000 Betroffenen stehen nur zwei konkrete Anlaufstellen gegenüber. Die Immundefektambulanz an der Charité in Berlin, die aber aufgrund der hohen Nachfrage nur noch Leute aus Berlin und Brandenburg aufnimmt - und die Kinderklinik in München, die sich jedoch auf ME/CFS bei Kindern und Jugendlichen spezialisiert hat. Wohin also, wenn man nicht zu diesem kleinen Kreis gehört? Ein großes Problem, meint Sebastian Musch:
S. Musch: Das häufigste das wir hören, dass die Menschen quasi nen Arzt treffen, der das Krankheitsbild nicht kennt oder der es halt ja abtut, dass es sowas nicht gibt und dass man sich das einbildet und quasi die Betroffenen als nicht krank ansieht.
J. Schrupp: Man geht etwa davon aus, dass rund 90 Prozent ohne die richtige Diagnose leben. Und ohne oder mit der falschen Diagnose, bekommt ein Betroffener auch nicht die notwendige Versorgung, meint die ME/CFS-Spezialistin Uta Behrends:
U. Behrends: Wenn jemand nicht versorgt wird ist das riesen Problem, dass die Krankheit dadurch alleine schon verschlimmert werden kann – weil sag ich mal eine fehlende Rollstuhlversorgung, eine fehlende soziale Unterstützung, oder bei Kindern eben ganz wichtig, eine fehlende Schulausbildung, die gesamte Lebensqualität reduziert und das hat natürlich wieder sekundäre Folgen für das Allgemeinbefinden.
J. Schrupp: Dieser Missstand muss aufhören, fordert die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS: O-Ton 4 Musch: „Wir müssen die medizinischen Fachkreise und die Öffentlichkeit aufklären, dass es das Thema gibt, dass es ein riesen Problem ist. Und insbesondere die Mediziner wie sie es diagnostizieren können und wie sie es aktuell behandeln können.
Im Laufe der Recherche wird mir klar, nicht das Unwissen in medizinischen Fachkreisen ist in Deutschland problematisch. Ich komme jetzt zu einem Punkt, den ich anfangs schon mal habe anklingen lassen: Sprecher 3: „ME/CFS gehört zu den letzten großen Krankheiten, die kaum erforscht sind“.
Aber warum ist das so? Eine wichtige Rolle spielt dabei die Forschungsförderung. Die hinkt bei MECFS nämlich immer noch hinter her, denn fundierte Forschung, deren Ergebnisse sich im besten Fall gewinnbringend in unser Leben integrieren lässt, kostet viel Geld. So stellen die US-Gesundheitsbehörden pro Jahr etwa drei Milliarden US-Dollar Forschungsgeld für HIV zur Verfügung aber nur acht Millionen für ME/CFS. In Deutschland gibt es übrigens überhaupt keine offizielle Forschungsförderung für die Krankheit.
Was dabei unter anderem auf der Strecke bleibt ist ein Biomarker für eine einfache und eindeutige Diagnosestellung. Das heißt ME/CFS kann bisher nur über einen Fragenkatalog anhand der Mustersymptomatik diagnostiziert werden – den sogenannten Kanadischen Kriterien und nicht aufgrund einer körperlichen Untersuchung. Außerdem muss ein umfangreiches Ausschlussverfahren anderer Krankheiten erfolgen. Das wiederum setzt voraus, dass der Arzt oder die Ärztin eines Betroffenen sich gut mit der Krankheit auskennt. Was jedoch nur selten der Fall ist und das zieht einen Rattenschwanz nach sich:
S. Musch: Also man sieht das leider immer wieder auch in der Medizingeschichte, dass immer dann, wenn man noch keine eindeutige körperliche Ursache feststellen kann, dass die Medizin dazu neigt, immer dann, wenn man es noch nicht organisch sieht oder mit irgendeinem Biomarker festmachen kann, dass man es halt der Psyche zu rechnet.
J. Schrupp: In solchen Fällen lautet die Diagnose dann zum Beispiel Burnout, statt ME/CFS. Betroffene bekommen deshalb nicht die dringend notwendige Beratung und Betreuung die sie brauchen, damit sich ihr Zustand nicht auch noch verschlechtert.
U. Behrends: Wir brauchen dringend einen Biomarker damit die Patienten nicht stigmatisiert werden, einfach diagnostiziert werden können und des ist das Hauptlek. Ohne Biomarker gibt es eben keine echte Verbesserung in dem sozialen Zustand dieser Patienten in unserer Gesellschaft. Sprecher 1: Zwar erschien im April 2019 erschien eine klein angelegte Studie, in der US-amerikanische Forscher einen potentiellen Biomarker ausfindig gemacht haben. Ob und wann das Verfahren in der Praxis angewandt werden kann, ist aber noch unklar. Der Biomarker weißt bisher nicht explizit auf MECFS hin, die Anzeichen im Blut könnten auch auf andere Krankheiten deuten. Um das auszuschließen müssen noch größer angelegte Studien erfolgen. Das wiederum kostet viel Geld.
J. Schrupp: Ist die richtige Diagnose letztendlich doch bei Betroffenen wie Kristina gestellt, folgt auf die erste Erleichterung Ernüchterung:
S. Musch: Vielen Patienten fällt es schwer, natürlich auch wenn sie die Diagnose bekommen, auch zu verstehen und anzuerkennen, dass man quasi in der Medizin es versäumt hat in der Vergangenheit ne Therapie zu entwickeln um den Menschen zu helfen. Das ist extrem schwer, das auch anzuerkennen und zu akzeptieren.
J. Schrupp: Und jetzt stell dir mal vor du müsstest in so einer schwierigen Situation auch noch um deine Existenz fürchten – denn in den meisten Fällen ist arbeiten für Betroffene nicht möglich.
S. Musch: Man schätzt das ungefähr 60 Prozent der ME/CFS-Kranken arbeitsunfähig sind –also das ist über die Hälfte - und die meisten davon sind völlig auf sich oder ihre Angehörigen, ihr familiäres Netzwerk gestellt.“Sprecher 1: Vom sozialen Netzwerk abhängig sein – also von Freunden und Familie. Sollte in solchen Fällen nicht die Kranken-, Renten- oder Pflegeversicherung einspringen?
K. Dettmer: Der tägliche Gang zum Briefkasten war heute wieder nicht von Erfolg gekrönt, ich warte jetzt inzwischen seit fünf Wochen auf eine Rückmeldung der Rentenversicherung, der Agentur für Arbeit und der Krankenversicherung nachdem im Juni mein Krankengeld ausläuft und ich keinen Plan habe wie es dann finanziell für mich weitergehen wird. Arbeiten ist bis dahin einfach immer noch nicht drin, meine Ärztin warnt mich davor mehr als zwei Stunden täglich zu arbeiten, weil einfach die Gefahr, dass ich wieder einen Rückschlag erleide der mir am Ende sogar bleibt einfach zu groß ist. Dieses Warten macht einen einfach wahnsinnig, vor allem weil man dann nicht weiß wie es danach weitergeht. Von dem her – Morgen neuer Versuch, neues Glück.
J. Schrupp: Kristina kann also laut ihrer Ärztin nicht arbeiten – sie ist somit erwerbsunfähig und hat damit eigentlich Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente. Die Betonung liegt hier auf eigentlich, denn wie in medizinischen Kreisen herrscht auch in deutschen Behörden viel Unwissenheit über ME/CFS. Eine Erwerbsunfähigkeit wird von den Sozialversicherungen oft nicht anerkannt oder die Unterstützung wird an bestimmte Bedingungen geknüpft:
S. Musch: Ich stell nen Antrag auf Frühverrentung oder geh zu meiner privaten Rentenversicherung, dann wollen die natürlich ganz genau wissen: Warum kannst du nicht mehr arbeiten? Warum geht das nicht mehr? Und sobald man auf die Idee kommt, ok da gibt es ja noch etwas, was dazu führt, dass es dir bessergeht, dann wird man von den Personen verlangen, dass sie das machen. Und wenn sie dann aber feststellen, ok wenn ich jetzt ne Aktivierungstherapie mache, dann geht es mir nur noch schlimmer hinterher und sich dann auch weigern, dann geht das ganz schnell, dass dann natürlich auch die Zahlung eingestellt wird. Also Betroffene die kein soziales Netzwerk haben, die sind wirklich existenzbedroht.
J. Schrupp: Hattest du schon mal eine ordentliche Grippe? Bestimmt hattest du dabei keine Lust dich viel zu bewegen und hätte dir dann dein Arzt dann geraten Sport zu machen, hättest du wohl seine Kompetenz in Frage gestellt. So ähnlich ist es mit der Aktivierungstherapie – eigentlich eine gängige Behandlung, zum Beispiel bei Demenzkranken. Spazieren gehen, Basteln, zusammen kochen – das sind Aktionen die Spaß machen, es sei denn der Gesundheitszustand verschlechtert sich anschließend zum Teil massiv.
Wie gefährlich diese Methodik bei Betroffenen sein kann, erklärt mir Frau Professor Behrends: O-Ton 5 Behrends: In einem Fall wo man den Patienten sozusagen scheucht oder gegen sein eigenes Gefühl zu einer Aktivität drängt für die seine Energiereserven nicht reichen, ihn in eine Lage bringt wo er eben deutlich schlechter bezüglich seiner Symptomatik ist und in einen sogenannten Crash – also einen totalen Zusammenbruch – hineinrauscht.
Spätestens jetzt denkst du dir wahrscheinlich: Wie kommt es, dass in Deutschland so viel Unwissen und Unverständnis im Bezug auf ME/CFS herrscht?
Nicht einfach zu beantworten, wird mir schnell klar. Viele Faktoren spielen wohl eine Rolle, unter anderem auch menschliche Eigenschaften, die nur schwer zu belegen sind.
Ein Faktor der aber auf jeden Fall eine tragende Rolle spielt und sich direkt auf das Leben von Patienten auswirkt, ist die Einteilung der Krankheit in die Leitlinie Müdigkeit in Deutschland. Eine Leitlinie bietet eine Orientierungshilfe, die Ärzten hilft über die angemessene Versorgung eines Patienten zu entscheiden.
Das Problem: Dort wurde bis 2018 die Aktivierungstherapie als Behandlung empfohlen.
Dann wurde die Leitlinie überarbeitet. Jetzt steht dort am Anfang:
L. Filip: Wegen der relativ geringen Inzidenz in der Hausarztpraxis und wegen des Fehlens einer einheitlichen Definition verzichten wir auf eine Leitlinie im engeren Sinne. Entsprechend war die Literaturrecherche zu diesem Thema selektiv.
J. Schrupp: Heißt übersetzt: Die Leitlinie erfüllt keine wissenschaftlichen Standards weil die zugrundeliegende Recherche nicht ausreichend war.
S. Musch: Wenn der Mediziner oder der Gutachter den Text liest, sind diese zwei Sätze die da vorweggestellt sind halt nicht so stark im Gewicht und deshalb ist diese Leitlinie auch ein riesen Problem. Wie gesagt, es steht drin das sie sich nicht an den aktuelle wissenschaftlichen Fakten hält oder die Quellen einfach weggelassen hat, aber der Text ist dennoch nicht gut.
K. Dettmer: Eigentlich war mir am frühen Abend am ehesten danach von der Couch einfach in mein Bett umzuziehen. Dann haben sich aber Freunde von mir gemeldet und mich gefragt haben ob wir uns nicht abends beim Griechen treffen wollen, sie würden mich gerne zum Essen einladen. Also habe ich mich nochmal aufgerafft. Es war eigentlich ein echt netter Abend. Und Irgendwann ist mir fast der Schädel geplatzt und ich musste mich verabschieden. Was immer so schade ist weil man einfach mal wieder für ne kurze Zeit ein ganz normaler Mensch mit nem ganz normalen Leben sein will und einem selbst so ein Abend eigentlich kaputt gemacht wird. Jetzt liege ich Zuhause in meinem Bett und merk dass meine Lymphknoten wieder so richtig schön dick und schmerzhaft sind. Meine Gelenk- und Muskelschmerzen hab ich dank Ibuprofen tagsüber einigermaßen in den Griff bekommen. Jetzt merke ich sie dafür wieder umso stärker. Ich weiß gerade nicht so genau welche Position angenehm ist, was die Vorfreude auf die Nacht immer dann riesig macht. Von dem her verabschiede ich mich jetzt für heute. Gute Nacht.