Rille, Bordstein, Mauer – Blind durch die Stadt

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Erkennbar sind sie oft an ihrer gepunkteten gelben Binde oder an ihrem Langstock: Blinde Menschen im Straßenverkehr. Sie bewegen sich routiniert über die Straße, finden Bussteige auf Anhieb und weichen jedem Hindernis aus. Doch so einfach wie es aussieht, ist es nicht. Alle Wege müssen sie hart trainieren und auswendig lernen. Unser Reporter Lukas Harth war dabei, als der blinde Sascha Kraus sich auf unbekanntes Terrain begibt.

Frau an der Pforte: „Kann ich Ihnen helfen?“

Lukas Harth (LH): „Ja, ich suche das Haus 11.“

Pforte: „Dann kommen Sie mal zu mir rein.“

LH: „Ja, danke!“

ST: Wie ein kleines Dorf erstreckt sich das Blindeninstitut in Würzburg auf eine Fläche von etwa 10 Fußballfeldern. Weiße Streifen weisen auf den Wegen in alle Himmelsrichtungen. Zu den Wohnanlagen, Werkstätten und Schulen für blinde Menschen. Am Eingang von Wohnhaus Nummer elf wartet Sascha Kraus schon ungeduldig.

LH: „Bist du Sascha?“

Sascha Kraus (SK): „Ja…“

LH: „Ah, ich bin Lukas.“

Sascha Kraus: „Hi!“

LH: „Grüß dich, hi!“

ST: Er ist 36 Jahre alt, knapp über Einssechzig und drahtig. In seiner Rechten hält er einen weißen Stab, ausgefahren wie ein Teleskop. Seine Augen hat er geöffnet. Ständig sind sie in Bewegung. So, als suchten sie etwas in weiter Ferne. Finden werden sie nichts. 

SK: „Ja, ich seh‘ von Geburt an nix. Das heißt, ihr müsst euch das so vorstellen, wie wenn ihr die Augen zumacht. Oder den ganzen Tag das Licht aushabt: Schwarz.“

ST: Blinde Menschen bewegen sich oft wie selbstverständlich durch den urbanen Dschungel aus Ampeln, Schildern und parkenden Autos. Wie machen sie das? Einfach immer der Nase nach? Das wird Sascha Kraus heute zeigen.

SK: „Rechts, links, rechts, links. Das ist diese Pendelbewegung.“

ST: Wir machen uns gemeinsam auf den Weg von seiner Wohnung im Blindeninstitut zum Bahnhof in Würzburg. Einen Weg, den er teilweise noch nie gelaufen ist.

SK: „Oh, ja, es ist schwer. Wo isse?“

ST: Orientieren kann er sich mit seinem Langstock an den Blindenleitstreifen. Das sind linienförmige Rillen im Boden.

SK: „Ja, ich find‘ sie jetzt gerade nicht. Das ist der Vorführeffekt. Aber hier! Ja, hier!“

ST: Meist gibt es Blindenleitsysteme nur an öffentlichen Plätzen wie Bahnhöfen. Damit sie immer gleich sind, gelten sogenannte DIN-Normen. Für die Wege ohne Rillen nutzt Sascha Kraus eine spezielle Wegweiserapp für Blinde, entwickelt vom Berufsförderungswerk Würzburg.

App: „Nach links kommst du zum Ausgang. Nach rechts kommst du zur Schule und zum Empfang mit Kantine.“

SK: „Gut, wir drehen uns nach links, wir wollen zum Ausgang!“

ST: Aus dem Blindeninstitut raus läuft Sascha Kraus wie im Schlaf. Anschließend überqueren wir eine viel befahrene Straße. Dann gibt es keine Rillen mehr.

SK: „Ampelpfosten. Mauer. Orientierung. Immer an der Mauer orientieren.“

ST: Über 70.000 Deutsche sind blind. Das bedeutet, sie haben weniger als zwei Prozent Sehkraft, so wie Sascha Kraus.

SK: „Das macht gar nichts, wenn man dagegen ansschlägt.“

ST: Nach zehn Minuten Fußweg erreichen wir eine Bushaltestelle. Perfektes Timing, gerade kommt der Bus.

SK: „Tschuldigung? Buslinie 20?“

Busfahrer: „Linie 20!“

SK: „Fährt zum Busbahnhof, ja?“

Busfahrer: „Zum Busbahnhof.“

SK: „Wir steigen ein!“

ST: Im sogenannten Mobilitätstraining lernen blinde Menschen die alltäglichen Wege auswendig. Ausgebildete Fachkräfte unterstützen sie dabei. Unbekannte Wege sind daher ein Problem für Blinde.

ATMO: Busfahrer sagt den Buststeig an

ST: Am Busbahnhof angekommen, bekommt die App kein Signal – und Sascha Kraus ist den Weg zur Bahnhofshalle noch nie gelaufen.

SK: „Boaaah. Ey, warum geht das net? Ich brauch‘ Information! Was gibt’s denn da? Ich weiß gar nicht wo ich bin. Ohne Scheiß, wenn ich allein bin, weiß ichs net!“

ATMO: App: „Sprachaus…Busstei…Busstei…Bussteig 1…Haupt…Busstei…Nächste GPS-Info-Punkte…Info-Punkt…Zurück-Taste…“

ST: Vom Bussteig zum nächsten Blindenleitsystem trennen ihn nicht einmal 25 Meter. Doch es gibt keine Orientierung und Busse fahren kreuz und quer. Sascha Kraus muss nach Hilfe fragen. Ein junger Mann hört ihn, trotz Kopfhörer.

SK: „Tschuldigung? Tschuldigung? Hallo?“

Passant: „Ja?“

SK: „Wo bin ich jetzt genau, weil ich möchte gern zur Bahnhofshalle. Muss ich jetzt hier weiter entlang?“

Passant: „Ja, eh, warten Sie mal. Wollen Sie sich an mir festhalten?“

SK: „Ne ne ne, ne ne. Ich möchte selber. Blind. Deswegen!“

ST: Zwei Mal läuft er mit Hilfe von Passanten zur Bahnhofshalle. Beim dritten Mal findet er den Weg allein. Oft stößt er dabei mit seinem Stock auf Hindernisse. Ein Mann steht in sein Smartphone versunken auf seinem Leitstreifen.

SK: „Heee, Augen auf! Blind! Scheiße, Faden verloren jetzt.“

ST: Sascha Kraus sieht erschöpft aus.

SK: „Boa, ich schwitz!“

ST: Nur das breite Grinsen verrät seine Laune, als er vor der Information in der Bahnhofshalle steht.

SK: „Weißt du was ich habe? Ich hab‘ alleine den Weg vom Bussteig hierher geschafft! Leck mich am Arsch, wie geil.“

Unser Musik-Mix

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